Zivilisierende Wirkung von Kirchen

Wie kommt es zum Kreuz??

Gegenwärtig kommen zwei Dinge zusammen, die aus meiner Sicht deutlich nachteilig sind und sich gegenseitig wechselweise verstärken: Kirche in Deutschland, zumal die katholische Kirche, der ich angehöre, taumelt mehr als das sie zielgerichtet handelt im immer noch nicht entschieden angegangenen Missbrauchsskandal.

Mein persönliches Anschauungsfeld: Das hiesige Erzbistum Köln. Es hat – anders als das Bistum Aachen – einen Missbrauchsbericht von einer Münchner Anwaltskanzlei zwar erstellen lassen, aber bislang nicht veröffentlicht. Vorgegeben für die ausgebliebene Veröffentlichung wurden die Interessen von Missbrauchsopfern. Das stellt für mich einen erneuten Übergriff von Erzbischof Woelki und seinem Generalvikariat gegenüber den Betroffenen dar. Sie wurden instrumentalisiert, um Fehlverhalten z.B. von Bischof Stefan Heße (Hamburg, früher Personalverantwortlicher in Köln) zu verdecken. Alles in allem eine unwürdige, unwahrhaftige und von Glaubenszeugnis meilenweit entfernte Praxis. Das Ergebnis werden Scharen von Leuten sein, die weiter aus der katholischen Kirche austreten. Und – ehrlich gesagt – ich kann es ihnen kaum verdenken.

Das zweite negative Phänomen: Seit Covid-19 haben wir es – ein Vorgang mit zeitweiliger Überschneidung – mit Zeitgenossen zu tun, die sich selbst als Querdenker oder Systemopposition darstellen. Häufig herrscht bei ihnen ein hysterischer Ton vor: Trump als imaginierter Berlinbesucher zeitgleich zur Demonstration am 29.8.2020. Oder eine “Jana aus Kassel”, die allen Ernstes meinte, sich mit Sophie Scholl vergleichen zu müssen. Insgesamt geht es darum, dass einige Leute die zugegeben schmerzlichen temporären Einschnitte der persönlichen Freiheit zum Schutz gegen Covid-19-Viren im Namen von absolut gesetzten Persönlichkeitsrechten strikt ablehnen.

Wie anders könnte sich dieses Problemfeld darstellen, wenn mehr Menschen als die weniger zahlreichen sonntäglichen Kirchgänger regelmäßig mit der christlichen Botschaft in Berührung kämen? Die moralische Seite des Christentums steht zwar nicht im Vordergrund (schon gar nicht im Bereich der Sexualmoral!), sie könnte aber all’ denen – die vor lauter Ich, Ich schon fast in Schnappatmung verfallen – sagen: Pass mal auf, du bist wichtig, du bist sogar unüberbietbar geliebt, aber du solltest dich an diesem Schriftwort messen: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst. (Lev 19,18, Mt 19,19)

Der oder die andere, zumal wenn sie oder er schwach ist, hat also die gleiche Daseinsberechtigung und das gleiche Recht auf Leben und Entfaltung wie ich selbst. Wer das einigermaßen regelmäßig im kirchlichen Rahmen oder per Bibellektüre oder vom Freund oder der Freundin gesagt bekommt, ist für das Sockenschussmilieu der Querdenker, QAnons und anderweitig Verpeilten unrettbar verloren. Katholische Kirche, mach’ endlich deine Missbrauchshausaufgaben, sorge für eine unbelastete Bistumsleitung und kehre dann zu deinem Kerngeschäft zurück: frohe Botschaft verkünden. Du könntest tatsächlich gebraucht werden! Und nicht nur Christinnen und Christen könnten davon profitieren, wenn ein zivilisierter Umgang miteinander auch im kirchlichen Feld verstärkt würde. Auch die Zivilgesellschaft insgesamt könnte erfreut sein, von einer als Teamplayer auftretenden Kirche unterstützt zu werden.

Einmal mehr büßen Armenier ihr Heimatrecht ein

Der Krieg in Bergkarabach ist für’s erste beendet. Ob das der Region auf Dauer Frieden bringt, ist unsicher. Bergkarabach war und ist ein mehrheitlich von ethnischen Armeniern bewohntes Gebiet. (Eine Volkszählung im Jahre 1923 verzeichnete einen Bevölkerungsanteil von Armeniern von 94 %.) In der UdSSR, die sich wenig um lokale Besonderheiten scherte, wurde dieses Gebiet 1923 Aserbaidschan zugeschlagen. Was genau ein Autonomes Gebiet – als solches war Bergkarabach verfassungsrechtlich eingeordnet worden – ausmachen sollte, blieb in den folgenden Jahrzehnten umstritten.

Die Auflösung der Sowjetunion bot nach einem von 1992 bis 1994 dauernden Krieg den Armeniern in Bergkarabach Gelegenheit, sich für unabhängig zu erklären. Allen Armeniern steckt das kollektive Trauma in den Knochen, dass zu Beginn des 1. Weltkriegs auf dem Gebiet der heutigen Türkei und Syriens ein Genozid an 1,1 bis 1,5 Millionen Armeniern verübt wurde. Dass man sich unter diesen Umständen gerne selbst um seine Sicherheit kümmern und sie nicht den Aseris anvertrauen wollte, die mit der Türkei eng verbunden sind, ist nicht verwunderlich. Ohnehin hatte es in den 90er Jahren eine Vielzahl von kleineren Pogromen auf dem Gebiet von Aserbaidschan gegeben, die in der Mehrzahl Armenier als Opfer hatten.

Die Entwicklung seit September 2020 verlief sehr eindeutig: Die militärische Unterstützung durch die von alten Großmachtsideen geleitete Türkei, die Waffenhilfe von Dschihadisten-Söldnern aus Syrien und Libyen und die durch Öleinnahmen finanzierte Militärmacht Aserbaidschans hatten in den letzten Jahren die Gewichte deutlich zu Ungunsten Armeniens und Bergkarabachs verschoben. Der im Spätsommer begonnene offene militärische Schlagabtausch zeigte rasch, dass Bergkarabach kaum zu verteidigen war.

Es darf bezweifelt werden, ob die neuen Bewohner der eroberten Gebiete zumindest die zum Teil 600 und mehr Jahre alten Kirchen unberührt lassen. Auf dem Bild das Dadiwank-Kloster, von dem Christen vor dem Rückzug Abschied nehmen. Ob Russland als maßgebliche Garantiemacht des Waffenstillstands ausnahmsweise mal einen Beitrag für Frieden liefert, bleibt ebenso zweifelhaft.

Infos zum Krieg aus der Liberation (auf Französisch)

Nachtrag 25.11.2020: Das kulturelle Gedächtnis wird nun – wie ich schon befürchtet hatte – vernichtet. Man stelle sich das Geschrei vor, wenn nicht das Kloster Dadiwank, wie im taz-Artikel beschrieben, sondern eine Moschee zerstört würde. taz-Artikel zu den mutwilligen Zerstörungen in Bergkarabach

Günter de Bruyn – Chronist und Erzähler verstorben

Bereits am 4. Oktober 2020 verstarb de Bruyn 93jährig. Mit ihm ist ein wahrlich uneitler und authentischer Chronist der deutschen Geschichte der letzten 80 Jahre verstorben. Seine autobiographischen Werke Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin und 40 Jahre. Ein Lebensbericht können als sachlicher Kontrapunkt zum aktuellen Blockbuster „Berlin Babylon” gelesen werden. Allerdings nimmt de Bruyn den Blick eines homme de lettres, keines Kriminalisten ein. An scharfem Hingucken – auch was die eigenen Niederlagen und Unzulänglichkeiten betrifft – lässt es de Bruyn trotzdem nicht mangeln.

Das Werk

Einem größeren Publikum ist de Bruyn als Schriftsteller bekannt, der Romane und Erzählungen hervorgebracht hat. Dazu gehören Buridans Esel, Preisverleihung, Die neue Herrlichkeit und eine Jean-Paul-Biographie, um nur einige zu nennen. Vieles war mit Landschaft und Geschichte der näheren und weiteren Heimat verknüpft. In diesem Sinne war de Bruyn ausgesprochen bodenständig, aber keineswegs provinziell. Ein sehr schlichtes ländliches Ausweichquartier in der Lausitz war schließlich auch eine Fluchtburg,  wenn der Anpassungsdruck dem Nonkonformisten und Systemgegner de Bruyn in Berlin mal wieder zu stark zusetzte.

Vita…

Bleiben wir bei de Bruyns Biographie: Detailreich kann er zunächst darstellen, wie er als 1926 Geborener das Nazi-Reich noch bewusst als Flakhelfer und Soldat erlebt. Bedeutungsvolle Orte dieser Zeit sind Britz, Berlin Neukölln und Pommern. Weitere Stichworte hier im Stenogramm-Stil: De Bruyn stammt aus einer Auswandererfamilie, die während des 1. Weltkrieges zeitweise in Russland lebte. Die katholische Herkunft und Überzeugung bewirkte eine Immunisierung sowohl gegen die HJ als auch die FDJ. In den letzten Aufgeboten der Wehrmacht verheizt zu werden, verhindert seine schwache Gesundheit. Eine kurze Kriegsgefangenschaft schließt sich an und endet mit einem langwierigen Treck mit Sudeten-Deutschen aus Tschechien Richtung Westen.

Nach dem Krieg arbeitete de Bruyn einige Jahre als Aushilfslehrer, bis er durch eine Ausbildung als Bibliothekar seine Bücherliebe beruflich verwerten konnte. Gleichzeitig ermöglichte dieser Brotberuf, etwas Freiraum für seine schriftstellerischen Versuche zu erwerben. Schon früh war klar, dass de Bruyn sich dem erwarteten Druck, der SED beizutreten oder zumindest verbal still zu halten, nicht entsprechen wollte. Dieses Eintrittsbillet für eine wohlfeile Karriere entsprach ihm nun überhaupt nicht.

…und DDR

Die Reaktion auf dieses widerständige Verhalten ließ nicht auf sich warten. Buchveröffentlichungen wurden verhindert oder mit unzumutbaren Änderungslisten versehen. Einen Rückzugsraum, um bei wackeliger Gesundheit dem Alltagsdruck und den kleinen Tritten gegen das Schienenbein zu entkommen, fand de Bruyn schließlich auf einer seiner zahlreichen Exkursionen auf’s Land. Es war eine heruntergekommene Mühle in der Lausitz, die er mit viel Einsatz wieder bewohnbar machte. Zu einer saukomischen Schilderung gerät, wie er auszog, in der ländlichen Umgebung – Karl May stand Pate – ein Pferd zu halten. Weil er dem Verkaufsdruck des Bauern nicht gewachsen ist, kommt er noch dieser Unternehmung nicht mit einem, sondern mit drei Pferden zurück. Die Pferde, alles andere als handzahm, führen den verhinderten Bauern in jeder Hinsicht vor. De Bruyn beschreibt von sich, wie froh er war, die Pferde vor Einbruch des Winters – wenn auch mit finanziellem Verlust – wieder loszuwerden.

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Christentum und Ferner Osten

West nach Ost

Obwohl geographisch sehr entlegen, war das Interesse von christlichen Ordensleuten an China und Japan schon früh groß. Bereits Ende des 16. Jahrhunderts zogen die Jesuiten Matteo Ricci (siehe Bild) und Michele Ruggieri mit Zwischenstationen nach China. Sie ließen sich dort auf Sprache und Kultur dieses großen Landes ein. Ricci schlüpfte in das Gewand eines buddhistischen Mönchs und fand durch seine vielfältigen wissenschaftlichen Kenntnisse Beachtung. Er gewann nicht wenige Menschen für das Christentum und starb als geschätzter Gelehrter 1610 in China. Ihm wurde die Ehre zuteil, auf einem Friedhof in Peking beigesetzt zu werden.
Eine Besonderheit in seiner Vermittlung des Christentums war, dass er den traditionellen Ahnenkult nicht abwertete, sondern – letztlich vergeblich – in seine geistige Sendung zu integrieren versuchte.
Weniger erfolgreich war der Versuch von Jesuiten, in Japan das Christentum bekannt zu machen. Eindrucksvolle Zeugnisse dieses Scheiterns liegen in Scorseses Film und der gleichnamigen Buchvorlage von Endo (“Silence”) aus jüngster Zeit vor. Sowohl in China als auch in Japan spielt das Christentum heute eher eine untergeordnete Bedeutung.

Ost nach West

Gedanken- und Ideenaustausch fand – und findet noch heute – auch in der Gegenrichtung statt. Hier ist vor allem an Zen zu denken, der von verschiedenen Menschen als Bestandteil christlicher Meditationspraxis etabliert wurde. In Japan hat sich der 1990 verstorbene und aus Deutschland stammende Hugo Enomiya-Lassalle SJ als einer der ersten dieser aus dem Buddhismus stammenden Meditationsform geöffnet. In Deutschland ist weiterhin Stefan Bauberger SJ zu nennen, der Zen aktiv betreibt und für kirchliche Praxis für wertvoll hält. Unter dem Namen Ashram Jesu gibt es in Oberzeuzheim, in der Nähe von Limburg und Hadamar gelegen, und in St. Peter, Köln, Initiativen, Zen in einem christlichen Umfeld zu betreiben.

 

Retreat in the city from the city – anders reisen

Reiseerfahrung im allgemeineren Sinne ist nicht notwendigerweise an Verkehrsmittel gebunden – eine wichtige Erkenntnis in Covid-19-Zeiten: Wir – meine Schwestern und ich – konnten als kleine Kinder zum Beispiel hingebungsvoll Schiffsreise spielen auf dem Chaiselongue unserer Küche in Troisdorf. Und entkamen den beengten Verhältnissen.

Meditation kann ähnliche Erfahrungen eröffnen: Abschied vom Alltag, Heraustreten aus dessen Zwängen und Anforderungen, Hinwendung zu etwas Neuem, das Gott heißen kann. St. Peter in der Jabachstraße hat in diesem Sinne am Ende der Sommerferien zum zweiten Mal eine Auszeit unter dem Titel Retreat in the city from the city angeboten. Der Name ist Programm: keine ländliche Abgeschiedenheit mit Kühen, stattdessen Nähe zum Neumarkt mit seinem Drogen-Hotspot und dem Drogenkonsumraum im Cäcilienhof. Dafür aber ein karger und trotzdem einladender, leerer Kirchenraum, in dem ein Chillida-Altar, ein Gerhard-Richter-Bild (als Ersatz für den in Restaurierung befindlichen Rubens) und weitere Kunst aus einigen Jahrhunderten Akzente setzen. Dazu kommt ein einladender Innenhof mit drei Schatten spendenden Platanen, zur Straße abgeschirmt durch eine Mauer.

Der Kurs dauert 4 1/2 Tage und wird von Ada von Lüninck, Stephan Kessler SJ und Dominik Sustek kundig angeleitet. Wesentliches Element ist das Sitzen in der Tradition des Zen: 40 Minuten Sitzen, 20 Minuten Gehen – zur vollen Stunde wieder das Gleiche. In der Mittagszeit wird ein einfaches Essen angeboten, das von den 8 Teilnehmer*innen selbst zubereitet wird. Wenn das Tagesprogramm gegen 17.30 Uhr endet, weiß jede / r, was sie / er getan hat. An drei der Tage schließt sich ein sehr schlichter Gottesdienst an.

Der geistige Input ist spärlich, aber ausreichend: einige Texte an der Wand (darunter der Bernhard-Text von unten), etwa 20 Buchtitel zum Thema Exerzitien, Meditation und geistige Begegnung zur Auslage. Dazu kommt das Angebot zu zwei etwa 20-minütigen Gesprächen mit einer der anleitenden Personen. Als Programm für eine wohltuende, aber auch fordernde Auszeit reicht das allemal.

Katholische Kirche in Köln wird oft und meistens zu recht gescholten. Wenn sich Kirche so allumfassend (?????????) präsentiert wie an diesem besonderen Ort St. Peter und mit diesen besonderen Tagen, kann ich nur sagen Mehr davon. Herzlichen Dank an Ada von Lüninck, Stephan Kessler und Dominik Sustek.

Bernhard von Clairvaux

Du musst nicht über Meere reisen,

musst keine Wolken durchstoßen
und musst nicht die Alpen überqueren.
Der Weg, der dir gezeigt wird, ist nicht weit
Du musst deinem Gott nur
bis zu dir selbst entgegengehen.

Retreat in the city from the city – Remix

Am Anfang steht die Frage: Stuhl oder Bänkchen? Für jeweils 40 Minuten direkt mit dem Bänkchen einzusteigen, verwerfe ich. Es geht ja beim Zen-Sitzen darum zur Ruhe zu kommen. Also Stuhl, nach der Verneigung sich hinsetzen, Hände schalenförmig ineinander gelegt, nach kurzer Zeit ertönt ein Gong. Es kann losgehen. Versuch eines exemplarischen Erlebnisprotokolls:

Dominik lädt zu einem Body Scan ein. Also spüre ich nach, wie die Füße, die Beine, das Gesäß, der Rumpf, der Kopf, die Schultern, Arme und Hände sich anfühlen. Das regelmäßige Atmen und die Ruhe im Raum hilft runterzukommen. – Du musst noch das Altglas wegbringen lässt sich die innere Quasselstrippe vernehmen. – Nicht wichtig, wegatmen. – Vom Cäcilienhof lässt sich ein Lachen vernehmen: richtig, ich bin in der Stadt und nicht in Bullerbü. Drogenkonsum und Lachen schließen sich nicht aus. – Allmählich gelingt es mir besser, das Atmen fließen zu lassen. Wenn ich zu sehr das Ausatmen betone, kommt allerdings der nächste Atemzug mit ein bisschen Not. Das lernt sich, bin ich mir sicher. – Von ferne ein Martinshorn – nicht wichtig, weiter atmen. – Die Tauben gurren auf dem Dach, schön entspannend. Die genießen den warmen Sommertag genauso wie wir in der kühlen Kirche. Was erzähle ich hinterher? Der innere Reportgenerator hat doch Ausgang, hat aber das Wort Geh’ mal offensichtlich nicht hören wollen. – Also weiteratmen. Irgendwann werde die inneren Stimmen gedämpfter und bleiben phasenweise ganz weg – ich kann den Satz, den ich mir für diese Sitzung selbst gewählt habe Gott wendet sich mir zu anders vergegenwärtigen.

Und dann nach drei von diesen seidigen Atemzügen, die nicht gemacht sind, ist der Kanal auf einmal von allen Störeinflüssen gereinigt. Mir ist auf einmal sonnenklar, tatsächlich Gott wendet sich mir zu – ohne Bedingung, unverdient,  gratis, mir mit meinen Macken und Mängeln. Wie überwältigend ist dann denn?! Ein Gefühl zum Eintüten* – was natürlich nicht geht. Die Erfahrung lässt sich zwar nicht beliebig reproduzieren, aber mit beharrlichem Weiteratmen lassen sich die Voraussetzungen schaffen – das ahne ich. Irgendwann ertönt das Glöckchen zum zweiten Mal: vierzig Minuten waren dann gar nicht soo lang. Der lichtdurchflutete Kirchenraum und der schattige Innenhof von St. Peter laden ein, im Gehen behutsam Welt und andere Körpereindrücke wieder zuzulassen. Bis dann ein Ton zur nächsten Sitzung einlädt.

*Ich bin nicht der einzige, der ein Exzellenzerlebnis bewahren möchte. Bei Petrus, bekannt für seine Übersprungshandlungen,  – wie ich im Tagesevangelium des schlichten Abschlussgottesdienstes erfahre – heißen die »Tüten« Hütten:
Und Petrus antwortete und sagte zu Jesus: Herr, es ist gut, dass wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten bauen, eine für dich, eine für Mose und eine für Elija. (Mt 17,4)

Bewegung bei der alten Tante: Bestattungsdienst

Über katholische Kirche im allgemeinen und im Kölner Erzbistum im besonderen zu berichten, ist selten Grund für Freude und Zuversicht. Um so schöner, wenn es in der Phalanx von Negativmeldungen mal etwas Positives mitzuteilen gibt.

Es gibt ihn jetzt tatsächlich, den Bestattungsdienst für Laien, meine Frau ist bei einer der ersten Runden der Ausgebildeten gewesen und jetzt auch praktisch tätig. Im hiesigen Bistum! Für nicht wenige der Hinterbliebenen ist es quasi epochal, dass jetzt auch eine Frau ohne ein kirchliches Amt am Tisch sitzen kann, die im Trauergespräch begleitet und die wichtigen Dinge für die Gestaltung der Beerdigung erfragt und entgegen nimmt. Und dann noch die Beerdigung selbst durchführt.

Großer Glückwunsch, Birgit, und kleine Glückwünsche auch an die alte Tante. Es bleibt aber noch viel Luft nach oben, meine Beste, zum Beispiel das Diakonat für Frauen. Wohlan! Wichtig wäre zudem, dieses Ehrenamt – aus der Not geboren – erkennbar wertzuschätzen.

Mitschülerinnen der Mutter (Berlin 1931) – #3

Es ist schon pervers im Wortsinne von “verdreht”: Um mögliche jüdische Mitschülerinnen meiner Mutter und ihr Schicksal von 1933 bis 1945 zu ermitteln, mache ich mir die gleiche Brille zu eigen wie weiland die Nazis: Anhand der Namen auf diese ohnehin problematische Kategorie “Juden” (vergleiche die Diskussion zum Stichwort “Rasse”) zu schließen. Andererseits möchte ich in jedem Fall an die bedrohten oder vielleicht ermordeten Menschen von damals erinnern.

Nun, das sind Namen von Mitschülerinnen meiner Mutter, zu denen ich Informationen fand:
Lore Strauss, geboren 14.2.1924, diesem Namen zugeordnet fand ich auch den Namen “Lore Allard”, war Schülerin der Privaten Waldschule Kaliski. Von ihr stammt ein Brief an L. Kaliski aus London vom 16.11.1981. Wenn es die Lore Strauss aus der Schule meiner Mutter wäre, wäre sie der Shoah entkommen.
Hanna Markus: Die Yad Vashem-Datenbank verzeichnet eine “Hanchen Markus”, wohl auch Berlin, aber Jahrgang 1922. Befund unklar
Ruth Baer: zu einer Ruth Bähr, ebenfalls Jahrgang 1924, ebenfalls Wohnort Berlin, vermerkt die Yad Vashem-Datenbank “Während des Krieges war sie in Chelmno, Polen. Ruth wurde in der Schoah ermordet.” Zu einer weiteren Ruth Bähr vermerkt die gleiche Datenbank: “Ruth Bähr wurde 1924 geboren. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebte sie in Berlin, Deutsches Reich. Während des Krieges war sie in Berlin, Deutsches Reich und wurde mit transport 4 von Berlin, Berlin (Berlin), Stadt Berlin, Deutsches Reich nach Lodz, Getto, Polen am 01/11/1941 deportiert. Ruth wurde in der Schoah ermordet.” Ob eine von den beiden mit dem Namen Ruth Bähr aufgeführten Frauen mit Ruth Baer identisch ist, kann nicht entschieden werden, ist aber möglich.

Die Zuordnung der Namen zu den Gesichtern auf den Fotos kann nicht eindeutig vorgenommen werden. Daher oben ein Gesamtbild der Klasse meiner Mutter von einem Schulfest.

Eine Namensliste der Photographierten, die offensichtlich aber viel später angeferfertigt wurde.

 

Siehe auch -- see also 
English -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg
Deutsch -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg

English -- Whereabouts of Lilli Cassel
Deutsch -- Hintergründe zu Lilli Cassel

English -- Class mates on an excursion / List of all class mates
Deutsch -- Klassenfoto vom Ausflug / Liste aus Fotoalbum

 

Grundschulfreunde der Mutter (Berlin 1931) – #2

  Kein Mensch käme auf die Idee, diese sorglosen Bilder mit dem wenige Zeit nachfolgenden, von Deutschen begangenen Völkermord in Verbindung zu bringen: Ein knappes Dutzend Mädchen hat offenbar Spaß auf einer Geburtstagsfeier im Mai 1931 in Berlin. Ich fand diese Bilder ebenfalls im Fotoalbum meiner Mutter, vermutlich aufgenommen von meiner Großmutter. Sie zeigen Lili Cassel (die 1. in der Reihe auf dem obersten Bild), meine Mutter ist dort die vorletzte. Glücklicher Weise konnte Lili Cassel gemeinsam mit ihrer Schwester Ewa zunächst nach England entkommen. Später emigrierte die ganze Familie in die USA.

Im Jahre 1952 heiratete Lili ihren Mann Erich Wronker. In ihrem Berufsleben wurde sie eine anerkannte Illustratorin (u.a. von Kinderbüchern) und professionelle Schriftgestalterin. Ohne besonders religiös aufgewachsen zu sein, zeichnete sie sich als Kalligraphin für in Hebräisch geschriebene Texte aus. Bei ihrem Tod im Januar 2019 erhielt sie sogar im der  NY Times einen Nachruf. Shalom, Lili

Ein Brief aus dem Jahre 1933 an das Kindermädchen findet sich hier.
Ein Londoner Tagebuch mit zahlreichen Illustrationen aus dem englischen Exil gibt es ebenfalls.

 

Siehe auch -- see also 
English -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg
Deutsch -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg

English -- Whereabouts of Lilli Cassel
Deutsch -- Hintergründe zu Lilli Cassel

English -- Class mates on an excursion / List of all class mates
Deutsch -- Klassenfoto vom Ausflug / Liste aus Fotoalbum

 

Grundschulfreunde der Mutter (Berlin 1931) – #1

Wolf Biermann hat einmal solche Konstellationen als besonders spannend und lehrreich beschrieben, in denen „Geschichtsbuch” und „Fotoalbum” zusammenträfen. Ein bisschen fühlte ich mich an diesen Satz erinnert, als ich ein Fotoalbum meiner Mutter vornahm. Ich hatte es mal für Kinder und Geschwister digitalisiert. Das Album enthielt für mich geradezu rührende Bilder aus der Grundschulzeit meiner Mutter 1931 in Berlin. Das Foto unten trug die Unterschrift „Mit Martha und Seppl Hirschberg Juli 1931”.

Es lag nicht fern, Befürchtungen zu hegen, was Menschen mit solchen Namen während der Nazi-Zeit geschehen sein könnte. Eine Recherche bei MyHeritage hat mich erst einmal beruhigt: Martha Esther Hirschberg ist 1979 und Walter Joseph Hirschberg 1998 verstorben. Sie haben also die Shoah überlebt. Walter Joseph Hirschberg ist offenbar nach San Diego ausgewandert. Vielleicht gelingt es mir noch, die Fotos Angehörigen der beiden zusammen zu lassen.

Weitere Informationen sind sehr willkommen.

 

Siehe auch -- see also 
English -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg
Deutsch -- Seppel (Joseph) Walter & Martha Esther Hirschberg

English -- Whereabouts of Lilli Cassel
Deutsch -- Hintergründe zu Lilli Cassel

English -- Class mates on an excursion / List of all class mates
Deutsch -- Klassenfoto vom Ausflug / Liste aus Fotoalbum