Uwe Timm hat viel Zeit benötigt, um einen Stoff zu bändigen, zu dem es für ihn eine direkte familiäre Verbindung gibt – seine Frau Dagmar Ploetz ist Enkelin der Roman- und historischen Figur Alfred Ploetz. Diese Zeit hat aber dem 500-Seiten-Werk gut getan, entstanden ist nämlich ein vielschichtiges, literarisch verfremdendes Zeitzeugnis der Jahre von 1890 bis zu den ersten Nachkriegswochen 1945. Im Mittelpunkt steht dabei Ploetz als führender europäischer Eugeniker der 20er und 30er Jahre.
Ausgangspunkt ist der Auftrag an den deutsch-amerikanischen Soldaten Michael Hansen – zweite wichtige Figur im Roman – zu erkunden, ob von den Mitgliedern des ehemaligen Ikarien-Bundes noch Gefahr für die amerikanische Militäradministration ausgehe. Ein solcher hat Bund tatsächlich existiert und umfasste im Breslau vor der Jahrhundertwende neben Ploetz, die Brüder Gerhart und Carl Hauptmann, Carl Steinmetz und einige andere. (Gruppen, die sich auf den Roman Étienne Cabets Die Reise nach Ikarien von 1840 bezogen und der in diesem formulierten Sozialutopie verpflichtet fühlten, hatten sich auch in verschiedenen europäischen Ländern gebildet.) Dieser Michael Hansen ist als Junge – so der Roman – noch in Hamburg aufgewachsen und stammt – wie Timm selbst – aus dem Stadtteil Eppendorf. Hansen besucht im Roman noch einmal diesen Ort, um sich seiner Kindheitseindrücke zu vergewissern. Timm hat mit dieser fiktiven Person dem verstorbenen Bruder, der 1943 als SS-Soldat starb, ein Bild entgegengestellt: Hätte der Bruder noch rechtzeitig Deutschland wie Hansen in Richtung USA verlassen, wäre ihm sein trauriges Schicksal vermutlich erspart geblieben.
Hansen spürt auf seinem Erkundungsauftrag bald mit Wagner – dritte tragende Figur im Roman – einen ehemaligen Bündnisgenossen von Ploetz auf. In sich über ein Vierteljahr hinziehenden Befragungen von Wagner durch Hansen wird eine quasi-dokumentarische Sicht auf Ploetz in den Roman eingeführt. Wagner und Ploetz teilen laut dieser Berichte zu Beginn eine Menge: Beide flüchten nach Zürich, um sich der Festsetzung durch die Polizei im Zuge der Sozialistengesetze der 90er Jahre zu entziehen. Sie besichtigen nicht nur eine Ikarier-Kolonie in den USA gemeinsam (und verzweifeln am dann doch eigensüchtigen Agieren vieler von deren Bewohnern), sondern sie verehren auch die gleiche Frau. Schrittweise aber entfernen sich beide in weltanschaulichen Dingen von einander: Während Wagner den sozialistischen Ideen treu bleibt und mit Vorträgen vor linken Zirkeln eine prekäre Existenz sichert, setzt Ploetz auf die biologische Verbesserung der Gesellschaft. Er formuliert Ideen der Eugenik unter dem Stichwort Rassenhygiene und will die Leistungsfähigen fördern und weniger kompensatorisch die Schwächen der Benachteiligten ausgleichen – Ideen, die durchaus auch bei Sozialdemokraten z.B. in Schweden Anklang fanden.
An dem Wissenschaftler Ploetz kann Timm exemplarisch nachzeichnen, wie ein zunächst ehrenhaft gestarteter Wissenschaftler – Ploetz macht sich immer wieder für die Rechte von Frauen stark – sich später zum geistigen Steigbügelhalter der Nazis macht, der Hitler eine persönlich Ergebenheitsadresse schickt. Ploetz ist aber auch derjenige, der dafür sorgt, dass Wagner aus einem KZ entlassen wird und in einem Antiquariat die Nazi-Zeit überdauern kann. Was hiervon geschichtlich verbürgt oder Zutat von Timm ist, ist vielleicht nicht so entscheidend. Timm fügt seinem Roman einige Literaturangaben an, mit deren Hilfe sich diese Frage sicher beantworten ließe. Die Lehre, die der Roman geben könnte, ist eher, wie sehr um eines vielleicht in manchen Dingen nachvollziehbaren Konzeptes willen Prinzipien wie Unantastbarkeit des Lebens und freie Entfaltung auch von weniger starken Menschen über Bord geworfen werden dürfen.
Gerade im Nachzeichnen der vielfältigen Verästelungen einer ideologischen Debatte in einer Gruppe hat mich der Roman stark an Manès Sperbers Wie eine Träne im Ozean erinnert. Beide Romane behandeln nicht nur in etwa die gleiche Zeit, sondern geben auch Zeugnis davon ab, wie Menschen, die ihren Überzeugungen gegen die vorherrschende Meinung innerhalb oder außerhalb ihrer Bezugsgruppen treu bleiben, in der Dissidenz notgedrungen überleben müssen. Sie zeugen von einer Debatten- und Streitkultur, von der ich mir für heute gerne etwas zurück wünschen würde.
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Biographischer Nachsatz: Wie sehr die Nachkriegsmonate und -jahre die Menschen, die sich jahrelang hüten mussten, ihre wahre Gesinnung zu äußern, unbotmäßige Musik zu hören oder die damit beschäftigt waren, ihr nacktes Leben zu erhalten, revitalisierte, erinnere ich aus einer Erzählung meines Vaters: Er berichtete mit glänzenden Augen von den Nächten, in denen ein westerwälder Vetter am Klavier in großer Runde in die Tasten haute. Alleine die Lust und der Alkohol, die dabei sicher beteiligt waren, wären Wochen vorher leicht als systemwidrig gebrandmarkt worden. Ich stelle mir solche Abende als die Wiederentdeckung der Jugend nach so vielen Jahren in einem Scheiß-Krieg vor. „So viel Anfang war nie” – hieß treffender Weise ein Bildband und eine Ausstellung über diese wichtige Zeit aus dem Jahre 1989.