„Ferreira ist für uns verloren“, ist die feste Überzeugung des Superiors einer Jesuitengemeinschaft in Macao im 17. Jahrhundert, was den Widerspruch von Pater Sebastiao Rodrigues und von Bruder Francisco Garupe provoziert. Beide machen sich daher auf in das entfernte Japan, um ihren ehemaligen Lehrmeister zu finden und ein Stück ihrer eigenen Jesuitenidentität bewahrt zu sehen. Das ist die Ausgangssituation in Scorseses „Silence“, mit der ein bildmächtiger, fast dreistündiger Film den Kino-Besucher mit auf die Reise nimmt.
Autor: g j
Brexit wird mit harten Bandagen angegangen
Die gescheiterte Fusion der Börsen von Frankfurt und London macht es noch einmal deutlich, was vor etwas mehr als 2 Wochen der bbc eine Meldung wert war: Der Brexit wird nicht zum Nulltarif zu haben sein. Dr. Andreas Dombret von der Bundesbank hatte in London einen Vortrag gehalten und warnende Worte gesprochen, die nicht überall willkommen waren.
Erstaunlich war, wie Leser von bbc anschließend im Schlachtmodus gewissermaßen noch einmal WW2 spielten. Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Ich wäre froh, wenn das UK weiterhin in der EU wäre, Europa verliert nicht nur einen Markt (der wäre zur Not noch zu verschmerzen), sondern vor allem den wohltuenden britischen Pragmatismus.
Wenn man aber nach vollzogener Abstimmung doch kalte Füße angesichts einer wackeligen Zukunft bekommt, sollte man den Schwarzen Peter zunächst mal bei sich suchen. Die Schlachten des 2. Weltkriegs sind Gott sei Dank geschlagen und benötigen auch keine mentale Wiederbelebung.
Logenplatz Karneval
Wer direkt am Weg des Ehrenfelder Dienstagszuges wohnt, muss eigentlich nur ein bisschen gute Stimmung mitbringen, ein paar Getränke bereit halten, Freunde einladen und alles andere auf sich zukommen lassen. Auch in diesem Jahr (bei besserem Wetter als im letzten) war es wieder ein Vergnügen, den Stadtteil vertreten durch diverse Schulen, Nachbarschaftsvereine, das Krankenhaus (!) und viele Einzelgruppen an sich vorbeiparadieren zu lassen.
Zwischendurch, wenn ein bekanntes Gesicht auftaucht und man ruft, gibt es fast immer ein Strüßchen oder Süßkram. Die häusliche Festvorbereitung lag wieder in bewährten Händen bei G.S. Machen wir jetzt schon zum 5. Mal und werden es hoffentlich noch häufig wiederholen…
Und schottische Bagpiper gab es auch – welcome!
Unterstützt die Petition für größere Meinungsfreiheit in der Türkei
Manchester by the sea – ein filmisches Trump-Gegengift
In Zeiten, in denen man fast täglich das Liebermann-Zitat bemühen möchte „Ich kann gar nicht so viel fressen, wie ich kotzen möchte”, um Trumps letzten Ausfall zu kommentieren, kommt ein leiser und mit 138 Minuten langer Film mit gänzlich anderem Charakter aus den USA in die Kinos.
Lee hat den Heimatort Manchester by the sea verlassen, weil er die Idylle angesichts dessen, was seiner Familie widerfuhr (Zeitebene 1), nicht mehr ertragen kann. Er ist jetzt (Zeitebene 2) Hausmeister in Boston und sein Arbeitseinsatz über das hinaus, was er tun müsste, wird selten gewürdigt. Der Mann, der immer wieder Schnee schippend oder bei der Beseitigung von Kloverstopfungen oder Leckagen gezeigt wird, ist definitiv kein Held.
Aus diesem Alltag wird er aber völlig überraschend herauskatapultiert, als er nach dem plötzlichen Tod von Bruder Joe zum Vormund seines 16jährigen Neffen Patrick bestellt wird. In der entscheidenden Situation beim Rechtsanwalt muss der von Casey Affleck eher mit Körpersprache und Mimik dargestellte Lee eine Entscheidung treffen. Einige Rückblenden machen dabei klar, wie lange der Entschluss, die Vormundschaft und Fürsorge für den Neffen zu übernehmen, benötigt. Lee hat nämlich den Heimatort nach der traumatischen Zerstörung seiner eigenen Familie fluchtartig verlassen. Nun bringt ihn die Beerdigung des Bruders auch mit seiner früheren Frau Randi zusammen – ebenfalls großartig besetzt mit Michelle Williams, die in Blue Valentine an der Seite Ryan Goslings in einer vergleichbaren unheldischen Geschichte agierte.
Mit am beeindruckendsten dann eine Szene, in der Randi mit Lee vallein ergeblich versucht, ihren Anteil am Scheitern der früheren Familie zu bekennen. Dieser erträgt jedoch keinen Blickkontakt geschweige denn dieses für ihn doch entlastende Bekenntnis. Lee hat sich in seinem Schmerz derartig eingeigelt, dass er ihn als Person meinende Kommunikation nicht mehr erträgt. (Wer im öffentlichen Bereich zu den Themen Schuld und Vergebung arbeiten will, findet hier einen hervorragenden Einstieg.)
Etwas leichter ist dann für Lee die Rolle eines Ersatz-Vaters Patrick gegenüber. Dieser probiert aus, was Jungen in diesem Alter ausprobieren: Sex, Freundschaft, Vorstellungen über die eigene Zukunft, Musik…. Aufopferungsbereit folgt Lee trotz mancher Bedenken und einigen wenigen Verboten dem Auftrag des brüderlichen Auftrags, für Patrick da zu sein. Dass Lee dann noch eine zündende Idee entwickelt, das Familienboot — wirtschaftliche Grundlage der Familie, aber auch Symbol für männliche Verbundenheit unter Joe, Lee und Patrick – zu retten, ebnet den Weg zu einem gelasseneren Umgang von Onkel und Neffen.
Formal traut der Film den Bildern aus dem ländlichen Küstenstreifen, aber auch aus den Begegnungen und Konfrontationen viel zu. Diese sind es doch, die im Zusammenspiel mit der unterlegten Musik (Bach (?) u.a.), im Zentrum des Films stehen. Kenneth Lonergan als Regisseur wie auch mehrere der Schauspieler sind zu Recht für Oscars nominiert: Ein Film der leisen Töne, wohltuend anders als das, was das offizielle Amerika gerade abliefert.
Scots – we love you…
Gestern gaben einige Abgeordnete aus Schottland im englischen Parlament ihrem Protest gegen den Brexit gesanglich Ausdruck, indem sie die Ode of Joy pfiffen oder sangen. Sie wurden ziemlich rüde zurückgepfiffen. Beethovens und Schillers Ode an die Freude oder ihr englisches Gegenstück Ode of Joy sind die offizielle Hymne der EU.
Anyway, Scots we love you…
www.telegraph.co.uk/news/2017/02/09/snp-mps-sing-ode-joy-brexit-bill-vote
Raumpatrouille – Matthias Brandts Erzählungsbändchen
Mit einem kleinen, aber feinen Bändchen mit kurzen Erzählungen zeigt Matthias Brandt, dass er nicht nur als Schauspieler eine gute Figur abgibt. Wer der gleichen Generation wie Brandt (*1961) angehört und dazu im Vor-Mauerfall-Bonn gelebt hat, wird zahlreiche Aha-Momente erleben.
Berührend ist, wie Brandt gerade nicht einen Prominentenbonus ausschöpft, sondern im Gegenteil den fernen Kanzlervater aus einer fast unüberbrückbaren Distanz beschreibt. Trotzdem ringt der Protagonist um die väterliche Nähe und Beachtung. Die Absonderlichkeiten, die in diesem Milieu von lebensnaher-liebevoller Mutter und seltsam abwesenden Vater gedeihen, sind Gegenstand der Erzählungen.
Zum Wegschmeißen komisch zum Beispiel die Schilderung, wie Vater Brandt und Herbert Wehner mal eine Versöhnungsradtour unternehmen sollen und diese Begegnung im Wortsinne auf so bedrückende, wie komische Weise entgleist. Noch ein für Heiterkeit („Jimmy“) sorgender Text, der aber auch die große Sehnsucht nach normalem Leben des Erzähler-Ichs zeigt, ist „Nirgendwo sonst”. Die gemütliche, wärmende und klar strukturierte Enge im Elternhaus von Schulfreund Holger löst zwar einerseits den Wunsch aus, auch einmal richtig irgendwo zugehörig zu sein. Am Ende ist aber der Ich-Erzähler doch wieder froh, in die gewohnten, wenn auch sterileren Abläufe zu Hause einzutauchen.
Die phantasierte Nähe des Protagonisten zu Heldenrollen wie Mondfahrer, Torwart, aber auch Briefträger wird glaubhaft und ohne nachträgliches Besserwissen entwickelt und nimmt einen für Brandt ein, der sich diese Nähe zu vergangenen Rollen gestattet, ohne sie nachträglich zu denunzieren.
Ein Interview, das Brandt über den Abschied von seiner Mutter geführt hat, liest sich als passende Ergänzung zu dem empfehlenswerten Erzählbändchen.
Matthias Brandt: Raumpatrouille. Geschichten, Kiepenheuer & Witsch
Wecker – du heimlicher Diktator…
Eine meiner Phantasien für den Übergang in den Ruhestand: Ich nehme einen altertümlichen Wecker mit Aufdrehschrauben und vielen Zahnrädern innendrin, lege ihn auf einen Amboss und zerschmettere ihn mit einem kraftvollen Schlag mit einem möglichst großen Hammer in möglichst viele Stücke… Okay, Realität an: Wahrscheinlich wird’s dann höchstens für einen ordentlichen Fäustel reichen und wo finde ich dann noch einen solchen herkömmlichen Wecker??
Musste heute jedenfalls einen neuen Wecker beschaffen, nachdem das solide Aldi-Teil seinen Geist auf sonderbare Weise aufgegeben hatte. Der über einen Chip und Funksignal gesteuerte Wecker zeigte, nachdem ich ihn unbeabsichtigt vom Nachttisch gewischt hatte, die Zeit konstant, aber sonst sehr exakt, 2 Stunden zu früh an.
Dem Ingenieur (zumindest Vater war einer) ist nichts zu schwör: Neues Ziffernblatt auf die durchsichtige Plastikscheibe gemalt und die Weckzeit entsprechend angepasst – schien eine brauchbare Idee zu sein. Irgendwo gab’s aber ein Problem, das ich offenbar nicht bedacht hatte: Am letzten Schultag war ich jedenfalls erst um 8.15 h wach statt der vermeintlichen 6.15 h. Peinlich…, weiß jetzt aber, wie es sich für manche meiner dauerverspäteten Schüler anfühlt, kurz vor 9 h ins Schulgebäude zu eilen.
Beim gerade beschafften Wecker werde ich mir aber dann noch einmal überlegen, ob ich wirklich draufhaue: Schönheit besiegt primitive Triebabfuhr (…und wo sind da die Rädchen?) Könnte man glatt als Devise für das neue Jahr ausgeben, das gerade mal zwei Tage alt ist…
Bastard of Istanbul – Elif Shafaks Auseinandersetzung mit dem Armenier-Genozid
für Dalita H.
Zunächst scheinbar ohne Bezug zueinander, erzählt Shafak die Geschichte von zwei jungen Frauen: Asya, im matriarchalen Haushalt der Mutter, deren drei Schwestern und zweier Großmütter in Istanbul aufwachsend, steht Armanoush gegenüber, deren armenisch-stämmiger Vater und ihre Mutter Rose, Landei aus Arizona, längst nicht mehr zusammen leben. Dafür hat Rose sich neu mit Mustapha liiert, der wiederum der Onkel von Asya ist und aus Gründen, die erst später klar werden, und auch weil er den Fluch der früh versterbenden Männer seiner Herkunftsfamilie fürchtet, in die USA ausgewandert ist.
Beide jungen Frauen begegnen einander, als Armanoush ihren beengenden amerikanischen Familien (sehr lustig die Schilderung, als Armanoush einen jungen Mann treffen möchte und die ganze Familie in den Überwachungsmodus versetzt ist) entflieht und etwas über ihre armenisch-türkischen Wurzeln in Istanbul erfahren will. Die Schilderung der Vorgeschichte von Armanoush berührt dann: Der Geschäftsmann Hovhannes Stamboulian wird am Abend, als er eine märchenhafte Erzählung (The story of a the little lost pigeon) für seine Frau fertigstellen möchte, in seinem Haus von einer Gruppe türkischer Soldaten heimgesucht, die ihn zum Schluss abführen. Eine rubinenbesetzte Brosche, ein Familienerbstück, bleibt zunächst im Haus der Stamboulians, wird aber anschließend durch das Hin und Her ihres Verbleibs zum Symbol einer gewaltsam beendeten Tradition von armenischem Leben in der Türkei. Die Schilderung dieser Vertreibung hat Shafak den Ritterschlag für widerständige türkische Schriftsteller und Journalisten verschafft. Sie wurde nach § 301, dem Gummiparagraphen, der die Beleidigung des Türkentums unter Strafe stellt, angeklagt, die Anklage aber später fallen gelassen.
Formal bedient sich der Roman Zutaten aus dem magischen Realismus, wenn die Djinns der weissagenden Tante auf die Handlung Einfluss nehmen. Eine moderne Zutat sind die Zitate aus einem Chat, der für Armanoush eine Möglichkeit darstellt, auch in der Fremde ihre Partner aus dem virtuellen Café Constantinopolis zu Zeugen und Begleitern ihres wagemutigen Besuchs in Istanbul zu machen. Im wahrsten Sinne gewürzt wird der Roman durch die Kapitelüberschriften, die – bis auf das Schlusskapitel – den Reichtum orientalischer Küche vermitteln, auf die sich Türken wie Armenier gleichermaßen beziehen können. Wahrscheinlich um Distanz zum Beschriebenen einnehmen zu können, hat Shafak den Bastard in Englisch geschrieben – ein Umstand, der ihr von Nationalisten quasi als Vaterlandsverrat um die Ohren gehauen wurde.
Alles in allem überzeugt Shafaks Roman formal und inhaltlich und besitzt genügend Finalspannung, um einen auf die Auflösung der familiären Rätsel gespannt sein zu lassen. Shafak zeigt sich mit dem Roman an der Seite anderer mutiger türkischer Kulturschaffender wie Fatih Akin und Orhan Pamuk, die sich der traurigen Vergangenheit stellen und ein wenig Hoffnung machen, dass sich die Türkei insgesamt irgendwann dem Genozid an den Armeniern stellen wird.
Elif Shafak, The Bastard of Istanbul, Penguin Books, 2007
Wanderkultur in der Pfalz
Das Wort „Wandern” war für unsere Kinder lange Zeit ein Unwort. Wollte man sie dazu animieren, war es z.B. in der Pfalz klug, eher vom Flammkuchen in den Hütten und von den Burgen auf den Bergen zu reden. Solche semantischen Klimmzüge müssen wir – ohne Kinder – nicht mehr anstellen. Die Vorstellung vom Wandern mit Trachtenhut, Lederhosen und Gamaschen spukt aber manchmal noch in meinem Kopf wie vordem vielleicht bei den Kindern.
Um so befreiender ist es, wenn sich Wandern als Breitensport zumindest in der Pfalz heute anders darbietet: Um den Nationalfeiertag herum waren wir in der Pfalz, dem Wein und dem Wandern zu Liebe. Das Charmante an einigen Orten wie Dürkheim, Deidesheim oder Neustadt ist, dass alle untereinander mit der Bahn verbunden sind. Man kann also am Rand des Hardt-Gebirges oder in den Weinbergen so lange wandern, bis man genug hat und fährt an den Ausgangsort zurück mit der DB.
Mir fiel dabei auf, dass die Pfälzer Wald Hütten heute eben nicht mehr diesen Fünfziger-Jahre-Geruch atmen, sondern von Jung und Alt und besonders von jungen Familien frequentiert werden. Mannheim, Ludwigshafen und andere Städte an der Rhein-Schiene haben offenbar viele Bewohner, die am Wochenende gerne mal im Wald wandern und dann auch in den Hütten einkehren. Die Preise dort sind so, dass keiner ausgeschlossen wird. Scheint die Sonne – wie hier im Weinbiethaus bei Neustadt – kann man es draußen bei Weinschorle oder Federweißen gut aushalten. Schade, dass mir diese Kombination aus Wandern und Genießen nördlich der Pfalz selten begegnet ist.