Imre Kertécs’ KZ-Roman: Schicksallosigkeit als Chiffre

Wir schreiben das Jahr 1944. Der Untergang Hitlers und seines Reiches zeichnet sich ab. Hitlers Schergen nehmen einen direkteren Zugriff auf das verbündete Ungarn: dadurch droht nun auch der jüdischen Bevölkerung Ungarns die Vernichtung. Das sind die Rahmenbedingungen für Kertécs’ Roman, den er ausdrücklich nicht als Autobiographie eingestuft wissen will.

Zum Roman: Györgi Köves, das erzählende Ich des Romans, wird im Sommer ’44 auf der Straße zusammen mit anderen Jungen aufgegriffen. Anfangs will er diesem Vorgang noch den Schein von Normalität geben. Der festnehmende Polizist hat für den Jungen – Kertécs und sein Alter Ego wurden mit 14 verhaftet – eher wohlwollende Züge. Erst als der Marsch aller festgesetzten Jugendlichen und Erwachsenen in eine Ziegelei erfolgt, wird der Zwangscharakter der Unternehmung und die Bedrohung deutlich.

Kertécs bleibt aber durchgängig bei der Perspektive des mit 14 Jahren noch naiven Jungen. Keine nachträgliche Reflektion bewertet aus der Rückschau die sich immer weiter zuspitzenden Ereignisse.

Das Erzähler-Ich meldet sich freiwillig für ein entferntes Arbeitskommando, da es darin eher Chancen sieht und seinen Wert durch seine Arbeit beweisen will. Der Bahntransport dorthin erfolgt jedoch nach Auschwitz und dem Leser stockt erst einmal das Herz. In den Augen des Jungen erscheint Auschwitz als wohlgeordnetes und „sauberes“ Lager. Seiner Jugend verdankt er jedoch, dass er in ein Arbeitslager weitergeleitet wird (Gleina bei Zeitz) und nicht das Schicksal der vielen Ermordeten teilt. Außerdem hat er mehr als einmal die Zauberformel Seschzaijn zugeraunt bekommen. Er soll sich als 16jähriger ausgeben, um der Vernichtungsmaschine zu entkommen. Auschwitz und die anderen Lager, die der Ich-Erzähler durchläuft, zwingen ihn fortgesetzt, sich mit seiner Rolle als Jude auseinander zu setzen. Ein weiteres konstantes Thema: Geborgenheit und ein Minimum an Austausch mit seinen Leidensgenossen zu finden, die ihm aber immer wieder durch die Willkür des KZ-Apparates abhanden kommen.

Überall wird der Wunsch des Jungen deutlich, möglichst bald die jeweils geltenden Regeln zu erfahren und sich ihnen rasch anzupassen. Die harte Arbeit, die schlechte Unterbringung, Bekleidung und Ernährung fordern auf Dauer ihren Preis. Der Junge plagt sich mit Geschwüren und seinem körperlichem Niedergang. Nun schwindet auch die eher positive Gleichmütigkeit. Der Junge überlebt in dieser Phase nur, weil er mitfühlende Pfleger und Ärzte findet. Inzwischen nach Buchenwald weiterverfrachtet, erlebt das Kertécs-Alter Ego im April 1945 auch endlich die Befreiung.

Das Stichwort Schicksallosigkeit im Titel weist in verschiedene Richtungen: Zum einen setzt sich das Erzähler-Ich damit von Mitgefangenen ab, die immer wieder nachkarten möchten: Hätte ich damals den Bus rechtzeitig bekommen, wäre mir die Verhaftung erspart geblieben… Dem steht György gegenüber, der stoisch erträgt, was ihm zugemutet wird. Die weitere Bedeutung des Begriffs ist aber noch wichtiger. Anders als ein Hans Mayer sieht Kertécs in der Shoah nicht den ultimativen Zivilisationsbruch, sondern die hinter dem KZ-System waltende Logik. Für Kertécs deutet sich an, dass eher die Logik der Moderne mit diesem KZ-System zu sich selbst gekommen ist und nicht ein historische Ausreißer ist. Diese Denkfigur lässt Freiheit nur bedingt zu und schließt eine gewisse Unvermeidlichkeit oder Schicksallosigkeit ein. Ein höchst unbequemer Gedanke, der zum Grübeln Anlass gibt.

Anders als bei z.B. Jorge Semprun oder Primo Levi fehlt in Kertécs’ Roman die tragische Geste. Das Leid, das auch Kertécs schildert, kommt eher beiläufig daher und in seiner Darstellung verhalten. Gerade das hat aber für mich die Lektüre seines Romans um so eindringlicher gemacht. Hier schreibt jemand – war mein Eindruck –, der sich selbst vergewissern muss. Und leidvoll stellt er fest, dass seine KZ-Erfahrungen nicht wirklich vermittelbar sind. Ein großes, erschütterndes und ernüchterndes Buch. Um so erstaunlicher, dass Kertécs am Ende seines Lebens mehrere Jahre in Berlin verbracht hat.

P.S.: Zeno Ackermann liefert hier eine spannende Betrachtung zu Kertécs’ Denkwelt und seinem Hauptwerk.

Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen, rororo-Taschenbuch,287 S., 10 €
Das Kolumba-Museum zeigt in seiner aktuellen Ausstellung „In die Weite. Aspekte jüdischen Lebens in Deutschland” ein Typoskript dieses Romans und die Nobelpreis-Medaille, die Kertécs 2002 erhielt.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert