Gebetsruf in Deutschland – Unterdrückung von Christinnen und Christen in der Türkei. Offener Brief an Frau Reker

Sehr geehrte Frau Reker,

ein Muezzin-Ruf zum Freitagsgebet in den Moscheen wird in Köln ausgesprochen kontrovers diskutiert. Ich möchte dazu Stellung nehmen und auf Punkte hinweisen, die bislang wenig Beachtung fanden.

• Islam in Köln ist im wesentlichen türkisch und sunnitisch geprägt. Die meisten hiesigen Moscheen stehen unter der Leitung der DITIB. Diese wiederum ist Befehlsempfängerin der türkischen Religionsbehörde Diyanet. Diese Abhängigkeit hat zu einer Reihe hässlicher Vorfälle geführt: Bespitzelung von muslimischen Gläubigen, Instrumentalisierung der Moscheen in den Auseinandersetzungen mit der Gülen-Bewegung, Lobpreisungen in den Moscheen für militärische „Heldentaten” u.a.m.

• Auch die Einweihung der Ehrenfelder Großmoschee, die ja eigentlich ein Willkommen der Stadt für die hiesigen Muslime darstellen sollte, ging – Sie werden sich erinnern – drastisch daneben. Eine Einladung an Sie und andere Repräsentanten der Zivilgesellschaft wurde „vergessen”. Der ehemalige Bürgermeister Schramma hat hier deutlich davor gewarnt, diese unfreundliche Haltung der DITIB nun in besonderer Weise durch eine einseitig positive Haltung der Stadt Köln zu honorieren (KStA 16./17.10.21).

• Vollständig unbegreiflich wird Ihre sogenannt „liberale” Haltung der türkisch-muslimischen Gemeinde gegenüber, wenn die Verhältnisse für Christen und Kirchen in der Türkei gegen die in Deutschland gewährte Religionsfreiheit gehalten werden. Prinzipien wie Menschenwürde, Freiheit (lat. libertas) oder Religionsfreiheit sind universell. Wer sie in Anspruch nimmt, muss wechselweise genau so handeln. Diese Prinzipien müssten daher im Gegenzug auch anderen, nicht-muslimischen Relgionsgemeinschaften in der Türkei eingeräumt werden. Davon kann dort allerdings überhaupt keine Rede sein (s.u.).

Ich bitte Sie daher dringend, den DITIB- und anderen türkisch geprägten Moscheen keinen Muezzin-Ruf zu gestatten und es bei der bisherigen Regelung zu belassen. Sollte sich in einigen Jahren die Situation von Christinnen und Christen in der Türkei grundlegend zum Besseren wenden, ließe sich über den Gebetsruf noch einmal neu nachdenken.

Stellen Sie sich vor: Deutsche Muslime sähen sich nur einem Bruchteil der einschränkenden und unterdrückerischen Maßnahmen gegenüber, die Christen und Christinnen in der Türkei zu ertragen haben. Das Geschrei wäre ohrenbetäubend. Wo soll der Sinn liegen, in dieser Situation türkisch-dominierte Moscheegemeinden noch zu hofieren?

mit freundlichen Grüßen

G. Jünger

Christentum in der Türkei 
Das Gebiet der heutigen Türkei war bei der Verbreitung des Christentums in den ersten Jahrhunderten zentral: Mehrere Konzilien der jungen Kirche fanden im 4. Jahrhundert dort statt: Ancyra, Nicäa, Chalkedon und Antiochia. Sie zeigten, dass dieses Gebiet Kernland der ersten Ausbreitung von christlichen Ideen war. Die Entchristlichung dieses ursprünglich christlichen Kernlandes vollzog sich in zwei Stufen. Ein Markstein in dieser Entwicklung war das Jahr 1453 mit der Eroberung Konstantinopels, des späteren Istanbuls, durch die Osmanen. 

Trotz der Eroberung blieben armenische und orthodoxe Christen auf dem Gebiet der heutigen Türkei wohnen und eher unbehelligt. Ihre religiöse Praxis wurde akzeptiert, solange sie Abgaben an den Staat entrichteten. Diese insgesamt tolerante Haltung änderte sich Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Armenier nahmen etwa die Rolle ein, die Juden in Europa besaßen. Sie waren als Händler, aber auch als Funktionsträger in der osmanischen Verwaltung erfolgreich. Das erzeugte Neid und Misstrauen gegenüber den christlichen Armeniern.

Mit dem Völkermord an den Armeniern in den Jahren 1915/1916 wurde der zweite tragische Markstein gesetzt. Schon zuvor waren in verschiedenen Pogromen immer wieder Armenier die Leittragenden. Die Zahlen der Ermordeten schwanken – je nach Zählung – zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen. Viele Überlebende, sofern sie nicht ins Exil gingen, wurden zwangsassimiliert.
Obwohl ursprünglich laizistisch konzipiert, verstärkten sich nach dem 2. Weltkrieg die Bestrebungen zu einem homogenen ethnischen und muslimischen türkischen Staat. Griechen, Armenier und Kurden mit je besonderen Kulturen waren nicht vorgesehen. Ein Höhepunkt auf dem Weg zu einem solchen türkischen Einheitsstaat war die Vertreibung der überwiegend orthodoxen Griechen aus der Türkei in den Jahren 1955 und 1956. Einschränkungen christlicher Gemeinden oder der Christen selbst begegnet auf vielen Ebenen in den letzten Jahrzehnten: Ganz grundsätzlich betrifft die Verweigerung eines Status als Körperschaft öffentlichen Rechts die christlichen Gemeinden. Grundstücke können nicht erworben werden, die Übereignung alter Gebäude z.B. eines Priesterseminars in Istanbul wird so unmöglich. Den wenigen griechischen Schulen wurde 1964 verweigert, dass Priester in ihnen religiösen Unterricht gestalten konnten. Ein Priesterseminar in Chalki wurde 1971 geschlossen. Straßenbauprojekte dienen als Vorwand, um alte Kirchen und Kapellen abzureißen. In den 90er Jahren wurden Brandbomben auf Kirchen geworfen und Friedhöfe geschändet. Eine Reihe von Priestern wurde in den Nuller-Jahren ermordet oder schwer verletzt, ohne dass der türkische Staat besonderen Eifer bei der Strafverfolgung der Täter erkennen ließ. Zuletzt wurde der Abt des Klosters Sankt Jakob in der Provinz Mardin verhaftet und angeklagt, weil er Kurden Brot und Wasser gegeben hatte. Auf privater Ebene verlieren türkische Christen einige ihrer bürgerlichen Rechte, wenn sie sich als Christen zu erkennen geben. Chikanen für Christen während des Militärdienstes sind zahlreich. Allen Christen, unabhängig von ihrer Herkunft, wird grundsätzlich unterstellt, keine zuverlässigen Staatsbürger zu sein.

Vermutlich ist der Zeitpunkt nicht fern, zu dem ein türkischer Ministerpräsident feststellen kann, dass die Türkei „christenfrei” ist. Das schließt nicht aus, dass in irgendwelchen Badeorten kleine Gemeinden für die ausländische Besucher existieren.

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