Du sollst dir kein Bildnis machen. Erfahrungen bei der Bahnhofsmission

Anna

Vor der Tür der Bahnhofsmission steht Anna (nennen wir sie so). Sie ist dort bereits vor deren Öffnung. Sie hat in jeder Hinsicht viel zu tragen: Sie schleppt verschiedene größere Einkaufstaschen mit ihren Habseligkeiten mit sich. Ihre Kleidung ist zusammengesucht und was dringend fehlt, ist ein Gürtel, der die Hose auf der Höhe hält. Nachdem sie einen Kaffee getrunken hat, machen wir uns zu dritt auf zu Gulliver*. Die haben tatsächlich einen Bademantelgürtel, damit ihr die Hose nicht runterrutscht. Check. Auf dem Rückweg reden wir über alles Mögliche: Sie habe Personalverantwortung getragen und Nächstenliebe im christlichen Sinne schließe die Liebe zu sich selbst ein. Da hat sie verdammt Recht. Zurück in der Bahnhofsmission teilt sie mit, dass sie in eine Psychiatrie eingewiesen werden möchte. Da sie in einer benachbarten Stadt noch gemeldet ist und dort erst vor kurzem eine Psychiatrie verlassen hat, ist die Bitte etwas komplizierter zu erfüllen. Mit etwas Geduld gelingt es mir, in der Alteburger Straße ein Aufnahme-Krisengespräch auszumachen. Anna hat aber andere Vorstellungen: Sie will ins Alexianer-Krankenhaus nach Porz, wo der bekannte Manfred Lütz mal die Leitung inne hatte. Dass das nun nicht mehr der Fall ist, stört Anna nicht. Sie beharrt auf dem Alexianer-Krankenhaus. Also Fahrweg und passende KVB-Linien ermitteln und einen Teil vom Stadtplan ausdrucken. Nach mehreren Stunden ist es dann soweit, Anna kann die Bahnhofsmission in Begleitung bis zur KVB verlassen. Noch oft frage ich mich, wie es ihr jetzt gehen mag…

Der Mann mit Wollmütze, Kopfhörer und Sonnenbrille

Und da ist der Mann, der mit Wollmütze, Sonnenbrille und Kopfhörern über den Ohren die Bahnhofsmission betritt. Er ist – schwer zu sagen – zwischen 35 und 45 Jahre alt. Nachdem er einen Kaffee bekommen hat, installiert er sich an einem Ecktisch im Winkel. Nach einiger Zeit holt er sein Smartphone raus und beginnt ein scheinbar angeregtes Gespräch. Es geht um Gerichtsprozesse, einen Anwalt, der konsultiert werden soll, um gemeinsame Freunde, einen Psychiatrieaufenthalt im Ausland, wo ihm körperliche Gewalt angetan wurde und vieles mehr. Irgendwann wird eine „Oma” angesprochen. Das Gespräch zieht sich länger als eine halbe Stunde hin und K. bittet den Mann irgendwann, etwas leiser zu sprechen. R. und ich sind uns einig, dieses Gespräch – es ist nur der Startbildschirm des Handys zu sehen – ist fiktiv. Hier kleidet einer sein Missvergnügen an und mit der Welt, vielleicht auch eine allgemeine Anklage in diese merkwürdige Form. Der Mann nimmt keinen Blickkontakt zu Raum und anderen Menschen hier auf. Ich entscheide mich, ihn nicht anzusprechen. Die Bahnhofsmission scheint dem Mann aber gut getan zu haben. Ich bin völlig überrascht, dass er sich nach über einer Stunde freundlich verabschiedet.

Einsicht

Gott, hilf mir, der Versuchung zu widerstehen, den mir hier zeitlich befristet Anvertrauten meine beschränkten Bilder von ihnen und vielleicht ins Kraut schießenden Rettungsideen überzustülpen. Es reicht, einfach hier zu sein, Kaffee oder Tee, wenn’s gut geht, ein kleines Gespräch anzubieten. Für das große Ganze kann ich hier kaum Verantwortung übernehmen und vertraue es dir an. Amen

*Gulliver – Überlebensstation für Obdachlose und Wohnungslose in Köln, Trankgasse 20
Dieser Text wurde von mir bei der Langen Nacht der Kirchen am 10.3.2023 in der Bahnhofsmission Köln verwendet