Brexit: Eine Mogelpackung ist eine Mogelpackung ist eine Mogelpackung

Boris Johnson hat 2016 eine Weile überlegt, welches Projekt ihm persönlich am meisten Fortkommen verschaffen würde: Ein Vorstoß zu mehr britischem Gewicht innerhalb der EU oder ein Frontalangriff auf die EU. Es kam – wie wir inzwischen wissen – zu der „Vote Leave”-Kampagne. Ein griffiger Slogan lautete damals We send the EU £35 million a week / let’s fund our NHS instead. Solche Parolen und eine hochprofessionell auf Zielgruppen ausgerichtete Propagandamaschine über Social Media verfehlten ihre Wirkung nicht. Am Ende stand ein Abstimmungsergebnis von 52 % zu 48 %. Junge Leute waren überraschender Weise weniger zahlreich im Irrglauben zur Abstimmung gegangen, ihre Stimmen seien entbehrlich.

Vier Jahre und zwei Tory-Regierungen später steht BoJo nun unter enormem Druck das, was er so vollmundig an positiven Effekten eines Brexits beschrieben hat, auch zu liefern.

Dabei hat das UK gleichzeitig sehr heftig unter den Auswirkungen von Covid-19 zu leiden. Die Idee, eine Herdenimmunität zu erzeugen, musste wegen der vielen Corona-Toten (bislang über 64.000) verworfen werden. Gleichzeitig hatten mehrere Lockdowns zusammen mit der Unsicherheit um den Brexit die Wirtschaft schwer gebeutelt: Im 2. Quartal 2020 schrumpfte das Bruttosozialprodukt um beachtliche 20 % (D: -10,1 % im Vergleich). Drei Problemfelder bei den Verhandlungen mit der EU sind nach wie vor geblieben: Die Fischereirechte, die inner-irische Grenze und die Festlegung auf gleiche Spielregeln beim Warenaustausch – auch bekannt unter dem Stichwort level playing field. Mit diesen Regeln soll verhindert werden, dass das UK Subventionen für Produzenten gewährt oder die Qualitätsstandards für britische Waren so herabsetzt, dass bei der Ausfuhr in die EU unfaire Handelsvorteile entstünden.

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Fare thee well

Nun ist es soweit: Am morgigen Freitag endet um 23 Uhr die Mitgliedschaft des Vereinigten Königtums in der EU. Gestern wurde der entsprechende Antrag im EU-Parlament durchgewunken. Die Reaktionen waren erwartbar: Nigel Fuernarsch frohlockte, viele, vor allem jüngere Mitglieder des EU-Parlaments drückten ihr Bedauern aus und machten klar, dass dies nicht der letzte Stand der Entwicklung sein muss.

Bleibt abzuwarten, ob die Verhandlungen für die weitere Anbindung des UKs an die EU tatsächlich bis Mitte des Jahres abgeschlossen werden können. Viele Experten halten dies für kaum machbar. (Die weiteren Monate wären in diesem Jahr nötig, um den langwierigen Ratifizierungsprozess zu realisieren.) Damit wäre auch noch einmal ein ungeregelter Brexit durchaus möglich. Nicht ausgeschlossen, dass dies durchaus im Kalkül von Boris Johnson liegt.

Wie herzlich oder frostig die langfristigen Beziehungen zwischen EU und UK aussehen werden, hängt auch davon ab, wie sehr BoJo auf Unterbietung von EU-Standards und radikale Liberalisierung des Handels zu Lasten der EU setzt. Dass grundsätzlich die EU am längeren Hebel sitzt, wird sich noch mitteilen. Da kann der Schwanz nicht mit dem Hund wackeln…

Dass mit dem morgigen Tag das UK weiterhin zu Europa gehört, ist – Gott sei Dank – unbestritten. Hoffen wir, dass Erasmus und der Austausch von Wissenschaftler*innen weiter für freie Kommunikation sorgt. Viele Familien, vor allen Dingen drüben, sehen aber einer ungewissen Zukunft entgegen, wie sich ihr Aufenthaltsstatus langfristig entwickelt.

Famous last words? Fare thee well and perhaps „au revoir“.

 

Boris Johnson – der Windbeutel ist geplatzt

Eigentlich hätte der gesunde Menschenverstand BoJo sagen können, dass das Außerkraftsetzen des Parlaments in einer Phase, die nun wirklich über die Geschicke des Landes entscheidet, mit Demokratie wenig zu tun hat. Er hat es jetzt schriftlich von mutigen Richterinnen und Richtern mit nicht zu überbietender Deutlichkeit gesagt bekommen: Deine Beurlaubung des Parlaments über 5 Wochen war von allem Anfang an unrechtmäßig und nichtig.

Die Schreier der Pro-Brexit-Fraktion werden jetzt wieder den Volkswillen auf quasi übernatürliche Weise für sich beanspruchen. Wahrscheinlich wird es BoJo aber kein 2. Mal riskieren, wieder per Gericht über seine Pflichten belehrt zu werden. Seinen Plan, den Parlamentsbeschluss gegen einen ungeregelten Brexit zu ignorieren, wird er vermutlich begraben.

Bleibt dem UK zu wünschen, dass bald jemand – nach dem 31.10. – als PM gewählt wird, die oder der das zerrissene Land wieder zusammenführt und den Pragmatismus wieder zur Leitlinie macht, der mal ein Markenzeichen des UK war. Die Äußerungen von BoJo aus New York lassen aber ahnen, dass er zumindest nichts kapiert hat.

mayday – mayday … but no May day

Man fragt sich: Warum tut sich die Frau das an? Als Remainer die Aufgabe zu schultern, den von Boris Johnson, Nigel Farrage und Co losgetreteten Brexit in ausführbare Politik umzusetzen. Ein 6-stündiges Kabinettsmarathon durchzustehen und dann vor der Kamera eine Erklärung abzugeben, die den Bruch nur notdürftig überdeckt. Die Erfahrung zu machen, dass wichtige Mitarbeiter im halben Dutzend von der Fahne gehen. Und ständig im Nacken zu haben, das ein Misstrauensvotum oder Neuwahlen bevorstehen könnten.

Nein, Theresa May ist um ihren Job nicht zu beneiden. Auch die zur Schau gestellte Zuversicht (strong and stable in Endlosschleife) hatte die Wähler bei den vorgezogenen Wahlen nicht überzeugt. Und jetzt steht noch die vermutlich unlösbare Aufgabe bevor, das Brexit-Vertragswerk durch das Parlament zu boxen.

Die Alternative: ein unkontrollierter Brexit mit schwerwiegenden wirtschaftlichen Verwerfungen. Die Pille, die noch das ganze UK schlucken muss, ist dabei noch gar nicht mitgerechnet: British Empire 2.0 wird es nicht geben. Bis Handelsverträge mit möglichen Partnern abgeschlossen werden könnten, werden Jahre ins Land gehen. Sollte Großbritannien auf Lohndumping setzen, werden die Arbeiter nicht mitspielen. Und die EU wird es nicht zulassen, dass ein unlauterer Wettbewerber vor ihrer Haustür startet.

Auch die Spannungen im eigenen Land (Nord-Irland, Schottland) tragen nicht dazu bei, dass in den nächsten Monaten ein himmlischer Frieden ausbrechen und May ruhig schlafen könnte. Es wäre nicht verwunderlich, wenn in einigen Jahren das ganze Vereinigte Königreich tatsächlich den Notruf mayday absetzen müsste. An May wird man sich dann ungefähr so lebhaft erinnern wie an Edward Heath oder John Mayor.

Brexit und die Folgen – Wie’s auch geht… #1

Nicht nur Schottland und Nord-Irland sind nach dem Brexit mit der vorhandenen Situation alles andere als zufrieden, auch viele einzelne Bewohner des UK wollen über einen Umweg ihre EU-Mitgliedschaft bewahren.

Der Weg geht so: Hast du eine (bislang vielleicht nicht so für dich bedeutsame) Großmutter oder einen Großvater mit irischer Staatsbürgerschaft, können jetzt die Enkel beim Citizens Information Board eine irische und damit EU-Staatsbürgerschaft erwerben. Auch andere, direkte Verwandte mit irischer Staatsbürgerschaft qualifizieren für einen solchen Antrag.

Die Behörde konsultieren offenbar so viele Menschen, dass das Personal aufgestockt werden musste. Auch unser schottischer Freund Alex geht jetzt diesen Weg und wird – sollte es dazu kommen und anders als bei dem ersten Referendum – für die Unabhängigkeit Schottlands stimmen…