In der Penetranz den Zeugen Jehovas oder irgendwelchen ML-Splittergruppen der 70er Jahre nicht unähnlich, bekommen wir Heutigen das Schlagwort wokeness um die Ohren gehauen. Worum geht’s? Im Zeichen einer Identitätspolitik, die bestimmte Merkmale als Eigentum einer Gruppe definiert, werden mit einer Pose des Rechthabens und der Kontrolle Regulierungen der öffentlichen Präsenz eingefordert. Das Stichwort ist cancel culture und die gibt es wirklich. Die Cornrow-Frisur steht demnach nur Schwarzen zu. Filmrollen sind danach zu vergeben, dass die Rolle in jedem Fall auch von einem entsprechenden Repräsentanten / einer Repräsentantin dieser Gruppe gespielt werden darf. Auch die bislang zum Kanon gehörende Literatur der Vergangenheit wird kritisch gesichtet: Darf ich meiner Enkelin demnächst noch Jim Knopf und Lukas der Lokomitivführer vorlesen, oder steht auch dieses Buch schon unter einem Verdikt? Der Tagesspiegel erwähnt heute, dass Uwe Johnson mit den „Jahrestagen“ und Wolfgang Koeppen mit „Tauben im Gras“ das N-Wort verwenden. Auch bei Böll, Bachmann, Dieter Forte und Hans Erich Nossack wird Kritikwürdiges vermutet. Bei Mark Twain in Tom Sawyer und Huckleberry Finn heißt es noch eine Spur schärfer Nigger. Ja, heute sollten wir diese Wörter nicht mehr in den Mund nehmen, weil sie in aller Regel herabsetzend gemeint sind.* Wir werden aber die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte oder Jahrzehnte nicht nachträglich rein waschen können. Wenn ich Verleger eines dieser Bücher wäre, würde ich einen kleinen Zettel beilegen, der den Unterschied von heutiger und vergangener Verwendung bestimmter Begriffe herausstellt.
Manche von diesen Forderungen hatten womöglich mal einen sinnvollen Ausgangspunkt: Auch ich bin froh, dass sich Schwule und Lesben in allen Bereichen der Gesellschaft zeigen dürfen, Rechte und Pflichten wie Heirat einer Partnerin / eines Partners oder die Adoption von Kindern selbstverständlich in Anspruch nehmen. Das ist eine kleine, begrüßenswerte Kulturrevolution, eine Errungenschaft. Die selbstgerechte Fliegenbeinzählerei von selbsternannten Vertreterinnen und Vertretern der wokeness lässt mich aber befürchten, dass diese auch als Blockwart zu anderen Zeiten gute Dienste verrichtet hätten.
Was nervt und wo ich nicht mehr mit kann, ist die Pose des Rechthabens und einer penetranten Moralisierung bei vielen Vertreterinnen und Vertretern des woke-Gedankens. Da geht es dann auch mal mit Gewalt zur Sache, wenn eine Peggy Sastre an der Pariser „Sciences Po“-Universität nicht vortragen darf oder ein Klaus Kinzler seine Lehrtätigkeit nicht mehr ausüben darf. Die Moralisierung fällt auch im Zweifel auf die wokeness-Vertreter zurück. Menschen, die sich als Vertreter der extinction rebellion verstehen und irgendwo verkehrsbehindernd ankleben, sind unglaubwürdig, wenn sie Tage später nach Thailand fliegen. Hier täte etwas Demut gut.
Besonders „erfolgreich“ ist die cancel culture offenbar im UK: Uwe Schütte beschreibt das in der taz so eindrücklich, dass ich länger daraus zitieren möchte:
Dass die unter dem Vorzeichen der Identitätspolitik derzeit erfolgende Revision der universitären Kultur den Kern des Akademischen auf lange Sicht aushöhlt, kann kaum bezweifelt werden. Was eines der zentralen Ziele jedes Studiums sein sollte, – das Erlernen von Ambiguitätstoleranz –, wird zum erklärten Feindbild. Nichts darf sich der Eindeutigkeit entziehen. Alles muss Farbe bekennen. Schwarz oder weiß; keine Graustufen erlaubt. Denn an die Stelle des Zweifels am eigenen Standpunkt tritt die Gewissheit des Rechthabens. Diese Apodiktik haben Wokeness-Jünger*innen durchaus mit den rechten Kulturkämpfern gemeinsam. Ist die politische Korrektheit in Deutschland eher eine der Strategien der Selbstgerechten aus dem linksliberalen akademischen Milieu, um ihre sozialen Privilegien vor der Unterschicht zu schützen, so ist im britischen System auffällig, dass insbesondere Privatschulzöglinge und Oberschichttöchter sich als vehemente Streiter für sexuelle und ethnische Minderheiten erweisen. Wokeness dient mithin zur politischen Neutralisierung wie moralischen Befestigung eigener sozialer Privilegien. Ihre emanzipative Stoßrichtung wird damit ins Gegenteil pervertiert. Der verbliebene Rest an widerständigem Denken, an zeitgeistresistentem Nonkonformismus, academic eccentricity – all das, was zumal britische Universitäten einst auszeichnete – wird nun mit der gesinnungspolizeilichen Keule der wokeness ausgetrieben. Die Hochschule, nicht nur in Großbritannien, so befürchte ich, wird bald schon kein Ort der Emanzipation mehr sein, sondern der ideologischen Konformität.
Also, alle mal tief durchatmen und einer umfassenden Aufklärung mehr zutrauen als ausgerechnet einer kleingeistigen Dauerzensur…
Kleine Demutsübung in eigener Sache: Auch ich habe in den 80er Jahren gegen Nachrüstung auf der Hofgartenwiese in Bonn demonstriert. Wenn ich mir die Aggressionsbereitschaft der damaligen Sowjetunion (Afghanistan, Prag 68, Budapest 56…) und des heutigen Russlands (Ukraine, Transnistrien, Georgien…) ansehe, bin ich verdammt froh, dass der Atomschirm der Amerikaner in Zentraleuropa ein umstandsloses Einkassieren Deutschlands verhindert hat. Will wahrscheinlich niemand gerne hören…
*Es gibt aber auch den Fall, dass Angehörige einer Gruppe inkriminierte Begriffe selbstironisch oder positiv gedreht auf sich selbst anwenden. Beispiele: Kölner Musikerinnen und Musiker verwenden das Label Zigeunermusik. Das Wort Schwule oder Lesben hatte lange Zeit klar eine pejorative Bedeutung, bis beide Gruppen den Spieß einfach umgedreht haben und den Begriff positiv auf sich selbst bezogen haben. Weitere Beispiele ließen sich anfügen.
Ja, mit dem Woke-Sein kann man es auch übertreiben, aber das ändert ja nichts daran, dass es sich um ein grundsätzlich sehr wichtiges Mindset handelt…. das viel zu spät in Deutschland angekommen ist. Über das N-Wort und seinen Gebrauch in der Literatur kann man im Germanistik-Seminar sicher trefflich streiten, aber wenn ich eine Enkelin hätte, würde ich ihr definitiv weder ‚Jim Knopf‘ noch ‚Pippi Langstrumpf‘ mit dem Neger- bzw. Südsee-König oder Ähnliches vorlesen – dazu erinnere ich mich viel zu gut an eine Diskussion mit jungen Schüler*innen über derartigen Sprachgebrauch und wie verletzend der von einigen Kindern wahrgenommen wurde, die sich aufgrund ihrer Hautfarbe angesprochen und als ‚anders‘ ausgegrenzt fühlten.
Zu den negativen Übertreibungen von ‚wokeness‘ insbesondere in den USA fand ich René Pfisters Essay ‚Ein falsches Wort‘ im ‚Spiegel‘ bzw. mehrere Diskussionsbeiträge im Internet lesenswert – eine gute Grundlage, um am besten gemeinsam über einen sensiblen Sprachgebrauch nachzudenken.