Lebensmelodien-Konzert realisiert ein musikalisches Vermächtnis (Deidesheim 11.6.24)

„Meine Teuren! 

Bevor ich von dieser Welt gehe, will ich Euch meine Liebsten einige Zeilen hinterlassen. Wenn Euch einmal dieses Schreiben erreichen wird, bin ich und wir alle nicht mehr da. – Unser Ende naht. Man spürt es, man weiß es. Wir sind alle, genau so wie die schon hingerichteten, unschuldigen, wehrlosen Juden zum Tode verurteilt. Der kleine Rest, der seit den Massenmorden noch zurückgeblieben ist, kommt in der allernächsten Zeit (Tage oder Wochen) an die Reihe. Es ist schauderhaft, aber wahr. Leider gibt es für uns keinen Ausweg, diesem grauenhaften, fürchterlichen Tode zu entrinnen.“

Zugegeben, der Titel „Lebensmelodien” mag erst einmal falsche Assoziationen bedienen. Er klingt womöglich nach gemütlichem Sonntagsnachmittagsprogramm vor dem Radio. Wenn man weiß, dass „Leben” hier aber keineswegs gemütlich, sondern als das blanke „Über-Leben” in einer extrem feindlichen und vernichtenden Umgebung bedeutet, erhält der Titel seine wahre Bedeutung. Worum ging es bei dem Konzerten unter dieser Überschrift?

Konzerte dieses Namens sind zunächst mit dem Namen des israelischen Klarinettisten Nur Ben Shalom verbunden. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit wechselnden Ensembles die musikalischen Zeugnisse jüdischen Überlebenswillens einer Nachwelt zu erhalten, die gerade die letzten Überlebenden der Shoah verabschieden muss. Er hat dabei den klaren Auftrag seiner Großtante und Musikerkollegin Salomea Ochs Luft, „Rache” zu üben, auf musikalische Weise sublimiert. Wir dürfen ihm dafür dankbar sein.

Mit dem Stichwort Musik kommt das Landesmusikgymnasium Rheinland-Pfalz (Montabaur) ins Spiel. Die Schülerinnen und Schüler haben mit ihrem Konzert am 11.6.24 in der St. Ulrich-Kirche Deidesheim den Liedern und Musikstücken der Ermordeten neues Leben eingehaucht. Als eines der verschiedenen Ensembles von Nur Ben Shalom holten die über 40 Schülerinnen und Schüler die Stücke, die für die ermordeten Menschen stehen, in unser Leben zurück. Wer sich vor Augen führt, wie professionell und empathisch sich die Schüler einer zehnten Klasse dieser schwierigen Musik angenommen haben, wird beim Stichwort „Rechtsruck der Jugend” vorsichtiger urteilen.

Die vorgestellten Stücke setzten sich aus Stücken aus dem religiösen jüdischen Leben (Lieder anlässlich des Pessah-Festes oder des beginnenden Shabbats) oder beispielsweise aus einem Stück von Ida Pinkert zusammen. Mit diesem hatte Pinkert an ihre bei Babi Yar ermordete Mutter erinnert. Pinkert hatte den Krieg als Partisanin überlebt. Zwischendurch moderierten Schülerinnen und Schüler die Stücke mit den nötigen Informationen an. Wer jetzt annimmt, die Musik würde eher eine bedrückende Wirkung entfalten, lag falsch. (Kleine Assoziation dazu: Im Film Die Kommissarin von Askoldov fängt eine Gruppe von Jüdinnen und Juden im Moment höchster Bedrohung unter Beschuss in einem Kellerraum an – man glaubt es kaum – zu tanzen! Auch das ist die Art und Weise, wie Juden sich immer wieder behaupten und überleben konnten.)

Im Verlauf des Konzerts traten die Schülerinnen und Schüler in immer neuen Formationen zusammen: Vom 4köpfigen Saxonphonensemble von Schülerinnen am Ende, Tutti zu Beginn und am Schluss, einer ungewöhnlichen Zusammenstellung aus Querflöte, Harfe, verschiedenen Blasinstrumenten, Streichern und Glockenspiel bis zu einem Ensemble aus Cello, Geige, Klarinette, Klavier und Gesang. Auch damit unterstrichen die Schülerinnen und Schüler ihre Vielseitigkeit. Gefallen hat mir, dass zu Beginn einem Schüler das Dirigieren überantwortet wurde.

Das Engagement der Schülerinnen und Schüler mit begleitenden Lehrkräften wie auch der hohe musikalische Standard des Vorgeführten waren den ca. 150 Zuschauenden einen langanhaltenden Schlussapplaus wert. Der veranstaltende Freundeskreis ehemalige Synagoge e.V. hat einmal mehr gezeigt, was er zum Kulturleben von Deidesheim beitragen kann. Schließlich gebührte auch der gastgebenden Pfarrgemeinde St. Ulrich Dank.

Der Schule und ihren Schülern werden demnächst sicher neue musikalische Projekte winken. Trotzdem wäre es schade, wenn es bei nur zwei Aufführungen des Lebensmelodien-Konzertes bliebe (neben Deidesheim auch Selters (WW.)). Sollte es zu einer Wiederholung kommen, würde in der schönsten aller Welten noch ein kleines Programmheft die Hintergrundinformationen zu den einzelnen Stücken zum Nachlesen bündeln. Auch damit würde dem Stichwort „Leben” und „Überleben” weiter Rechnung getragen.

Ein anderes von den vielen bei youtube dokumentieren Lebensmelodien-Konzerten ist hier zu finden:

 

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