Was richten 1 3/4 deutsche Diktaturen in den Köpfen der ihnen Unterworfenen an? Wie wirken sich solche über Jahrzehnte und Generationen anhaltenden Repressionserfahrungen vor allen Dingen auf das Binnenklima in den Familien aus? Das könnte man als Ausgangsfragen für Geipels Buch Umkämpfte Zone formulieren.
Zur Frage wird dies mit kaum abweisbarer Dringlichkeit, als ihr der nahestehende Bruder plötzlich stirbt. Mit diesem Tod fällt noch einmal ein Licht auf die mal offen brutalen, mal subtilen Unterdrückungsmechanismen, die dieser mit der Autorin geteilt hat. Von dieser Binnenperspektive geht dann auch ihr Blick auf das größere gesellschaftliche Umfeld. Wie hängen DDR und nachfolgende Bundesrepublik-Geschichte mit der Geipel’schen Familiengeschichte zusammen?
Ein erster Blick Geipels gilt dem Gründungsmythos der DDR, oft mit dem Namen Buchenwald verknüpft. Der mit Buchenwald glorifizierte Anti-Faschismus war alles in allem – so Geipel – ein Betrug. Dies wird deutlich, wenn den im KZ Buchenwald umgebrachten 56.000 Häftlinge der mit 72 verschwindend geringe Anteil getöteter deutscher Kommunisten gegenüber gestellt wird. Das kommunistisch dominierte Kapo-System – so führt Geipel aus – konnte eben dafür sorgen, wer die gefährlichen Funktionen und wer die vor direkter Gewalterfahrung deutlich besser geschützten Verwaltungsposten übernehmen durfte. Dass hierbei die kommunistische Parallel-Lagerleitung ebenfalls Verbrechen beging, war doppelt bedeutsam. Das offizielle DDR-Narrativ nach dem Krieg musste dies um jeden Preis leugnen. Andererseits waren diese Vorfälle aber auch so gut dokumentiert, dass sie im Tauziehen zwischen den Ulbricht-Pieck-Rückkehrern aus Moskau und den zahlenmäßig deutlich überlegenen, in Deutschland verbliebenen Kommunisten als Druckmittel verwendet wurden. Wer hier aus politischer Überzeugung zu widersprechen drohte, konnte gewiss sein, mit alten Taten an’s Messer geliefert zu werden.
Das Alte verborgen zu halten, war aber auch für Geipels Großvater im anderen politischen Lager überlebenswichtig. An grausamen Repressionsmaßnahmen unter Nazi-Herrschaft in Riga beteiligt, musste der Großvater erst einmal möglichst unauffällig untertauchen. Das hieß an einen Ort zu ziehen, wo er unbekannt war, beruflich das Arbeitsfeld zu wechseln und so fort.
Dass solches Quid-pro-quo gewissermaßen zur zweiten Natur werden kann, kehrt dann in Geipels Vater wieder. Der ehemalige Lehrer macht in der Stasi Karriere und führt als Agent in Westdeutschland eine zweite Existenz. Beide Kinder, Ines Geipel und ihr Bruder, erfahren davon nichts . Sie treffen aber – wenn der Vater anwesend ist – auf einen Familiensadisten, der nach exzessiver Gewalt an den Kindern zum gemütlichen Feierabendbier übergehen kann.
Spannend auch mit Blick auf die immer noch hohen Wahlerfolge der AfD gerade im Süden der ehemaligen DDR ist Geipel zu lesen. Wie kann diese Rattenfänger-Partei die mehrfach gebrochenen Biographien vieler ehemaliger DDR-Bürgerinnen und -Bürger und die durch sie erzeugten Ressentiments in politisches Kleingeld umwandeln? Hier gibt Geipel wertvolle Anregungen.
Geipels Stil ist durch meist kurze Sätze geprägt, die ohne Umschweife zur Sache kommen. Die Assoziationen, denen sie folgt, sind gerade dadurch fesselnd, dass sie diese immer wieder an Familiengeschichte und Erlebnisse im Freundeskreis rückbindet. Das erzeugt eine Wirkung großer Authenzität und einer Ehrlichkeit, die auch die Familie nicht schont. Lange nicht mehr einen politischen Essay mit so viel Anteilnahme gelesen. Daher gilt: Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an. – Georg Christoph Lichtenberg