Mein Vater, von mir eher düster und angestrengt erinnert, bekam strahlende Augen, wenn er davon erzählte, wie in den ersten Nachkriegsjahren im Westerwald neue Lebensfreude zelebriert wurde. Die entstand z.B rund um den in die Tasten des Klaviers hauenden Ferdi Brück (Exil-Kölner!). Wahrscheinlich wurde dazu auch ordentlich gepichelt. Mein Vater konnte zu dieser Zeit darauf zurückblicken, dass er, kurz bevor der Kessel in Stalingrad sich schloss, den rettenden Granatsplitter empfing und ausgeflogen wurde. Auch seine Freundin und seine spätere Frau mag er vor Augen gehabt haben, die ihn im Lazarett als Krankenschwester wieder „aufmöbelte”. Von solcher Art sind wohl viele Geschichten, die aus den Jahren 1945 bis 1949 erzählt werden können. Wie spannend und erhellend sie auf überindividueller Basis erzählt werden können, macht Harald Jähners Wolfszeit deutlich.
Harald Jähner liefert auf reicher Faktenbasis einen breiten Soundtrack, wie sich ein Querschnitt der Menschen in Deutschland in dieser Kernzeit des kollektiven Resets und Großexperiments neu einrichtete. Er wertet vornehmlich Literatur, aber auch Zeitungsberichte und einschlägige Monographien aus. Ein Subjekt, das eine immer noch primär national verstandene Geschichtsschreibung voraussetzt, existierte zu dieser Zeit gerade nicht. 75 Millionen Menschen auf dem Gebiet der vier Besatzungszonen unter Führungsaufsicht, aber im Alltag erst mal damit beschäftigt, sich selbst, ihre Beziehungen und das Überleben zu organisieren.
Die Ausgangslage war dramatisch, wie Jähner deutlich macht:
Im Sommer 1945 lebten in den vier Besatzungszonen ungefähr 75 Millionen Menschen. Von ihnen waren weit mehr als die Hälfte nicht dort, wo sie hingehörten oder hinwollten. Der Krieg hatte als gewaltige Mobilisierungs-, Vertreibungs- und Verschleppungsmaschine gewirkt. Wer überlebt hatte, den hatte sie irgendwo ausgespien, weit weg von dem, was einmal eine Zuhause war. (61)
Dass gerade in der absoluten Reduktion auf das Wesentliche und die blanke Notdurft (vergleiche Günter Eichs Inventur, das Jähner zitiert und unten zu finden ist) ein Schlüssel zu einem großen Empfinden von Freiheit und wiederentdeckter Lebenslust enthalten war, ist aus heutiger Sicht nur schwer nachvollziehbar. Jähner zitiert aus dem Jahr 1952 einen Text von Kurt Kusenberg mit dem bezeichnenden Titel „Nichts ist selbstverständlich. Lob der Elendszeit”, der sogar eine geheime Sehnsucht nach dieser Nullzeit erkennen lässt. Das Gröbste mit zwei Hungerwintern 1946 und 1947 mit vielen Toten lag nur wenige Monate zurück!