für Stephan (*1960 †2018)
Während in den 50er Jahren – ich bin selbst in deren Mitte geboren – noch eine gewisse Piefigkeit und Enge vorherrschten, waren die 60er Jahre auf breiter Front ein Jahrzehnt der Erneuerung und eines großen Optimismus. Selbst die Kuba-Krise im Oktober 1962 konnte daran nichts ändern. Der drohende Atomkrieg wurde in letzter Minute verhindert. (Kriegen Sie auch Schweißausbrüche bei der Vorstellung, wie der aktuelle US-Präsident diese vermutlich eben nicht gemanaget hätte?)
Kinder & mehr
Dieser Optimismus war zum Beispiel daran sichtbar, dass die Hiesigen mit einer Unbekümmertheit Kinder kriegten, die seitdem nicht wieder erreicht wurde. Der Familiengründung wurde kein fünftes Whiskey Tasting oder die Flugreise auf die Malediven vorgezogen. Gleichzeitig war es aber zunehmend akzeptiert, dass Pille oder Kondom zur Familienplanung genutzt wurden. Frauen wurde endlich gestattet, ein eigenes Konto zu eröffnen (1962) oder erhielten die Geschäftsfähigkeit (1969) – aus heutiger Sicht kaum zu glaubende Anachronismen. Dass auch Mütter berufstätig wurden wie bei uns, half nicht nur das Haushaltseinkommen zu vergrößern, sondern tarierte auch die Partnerschaft besser aus.
Dass es so viele Kinder gab, war für uns Halbwüchsige im übrigen ein großes Plus: Jederzeit konnte man in allernächster Nähe irgendwo klingeln und nachfragen, ob jemand zum Spielen raus kam. Das Wort Risikogesellschaft war noch nicht von Soziologen problematisiert worden – Risiken, wenn es denn solche waren, wurden noch nicht gesehen oder fraglos akzeptiert: Anschnallen im Auto – überflüssig, Rauchen vor Kindern – Privileg der Männer und zunehmend auch der Frauen, lückenlose Überwachung der Kinder – technisch nicht möglich und alltagspraktisch auch nicht umsetzbar. Fahrradtouren im Umkreis unseres Heimatortes Hennef bis ins Hanftal oder nach Oberpleis oder Uckerath regten keinen auf. Zum Spielen am Bach Nähe Niederdorf begleitete uns anfangs unsere Mutter, später waren wir dort alleine. Oder wir unternahmen selbst Streifzüge im großen Hennefer Wald. Auch eine Höhle fanden wir, in die wir uns aber nicht rein wagten.
5202 Hennef
Überhaupt Hennef: Der etwas verschlafene Ort im Siegtal mit vielen zugehörigen Dörfern und Ortsteilen explodierte geradezu, was die Einwohnerzahl anbetraf: Waren es in den 60er Jahren noch 13.000 Einwohner, zählte der zur Stadt erhobene Ort 2017 47.000 Bewohner. Während wir älteren noch nach Troisorf oder Siegburg zu weiterführenden Schulen mussten, konnten die nachrückenden Geschwister Realschule und Gymnasium erstmals in Hennef besuchen.
…Autos…
Deutschland wie andere westliche Länder prosperierte und ein wesentlicher Ausdruck davon war die Verbreitung der Autos. Alle Familien, die es sich irgendwie leisten konnten, besaßen ein eigenes und genossen die neu gewonnene Mobilität. Für uns als siebenköpfige Familie hieß das zum Beispiel Ferien in Holland. Vier Kinder auf der Rückbank des Käfers [sic], der kleine Bruder auf dem Schoß der Mutter – sicher nicht der Gipfel der Bequemlichkeit. Weil es so eng zuging, gab es eine Zwischenstation in Kleve bei einer befreundeten Familie. Hier konnt man dann die Anstrengungen einer solchen Reise schnell vergessen.
…und Fernsehen
Neben dem Auto krempelte das Fernsehen das Leben um: Wenn auch nur Schwarz-Weiß und mit erst zwei, später drei Programmen ausgestattet, gab das Fernsehen die verbindenden Gesprächsthemen vor. „Das Stahlnetz?, „Raumpatrouille?, „Die Gentlemen bitten zur Kasse? hießen einige populäre Straßenfeger. Gleichzeitig war das griselige Bild der Fernseher – keine Rede von HD – immanente Medienkritik: Keiner konnte bei einem technisch dermaßen schlechten Bild Realität und Fernsehbild mit einander verwechseln. Tagesschau und politische Magazine wie Monitor und Report informierten eine große Zahl von Menschen. Fernsehen wurde auch als Bildungsmedium empfunden und für die politische Meinungsbildung bedeutsam. Konservative schimpften gerne über den Rotfunk, weil der Zeitgeist links stand.
Kirche
Selbst die schwerfällige katholische Kirche ließ mit dem 2. Vatikanischen Konzil von ihrem Alleinvertretungsanspruch ab und ging zur Verkündigung in der Landessprache über. Das Wort dazu war Aggiornamento. Lateinische Bestandteile im Gottesdienst rückten in den Hintergrund. Neue Kirchen, die vielerorts gebaut wurden, setzten den Altar eher in die Mitte. Die Gemeinden konnten erstmals Pfarrgemeinderäte bilden und Mädchen und Frauen bekamen in den meisten Gemeinden mehr Raum in Gottesdienst und Gemeindeleben. Im Sonntagsgottesdienst um 11 Uhr im Geistinger Redemptoristenkloster fanden die Christen zusammen, die eine anspruchsvolle Predigt erwarteten. Hier hörte ich zum ersten Mal von Nietzsche – kein schlechter Ort, um den Namen dieses Philosophens aufzuschnappen. Kirche war noch partyfähig (Harald Schmidt) – viele waren dort zu finden. Und auch Mädchen gab es dort, die ich spannend fand. In Holland während der erwähnten Familienurlaube wirkte nicht nur das Klima, sondern auch der Katholizismus erfrischend: sichtbar am entspannt nach dem Gottesdienst rauchenden Priester, der Zeltkirche in Ouddorp und Oosterhuis-Liedern im Originaltext…
Politik
Politik hatte noch nicht den Ruch von abgehobenen Kasten und Eliten, dafür spielte sich das Leben in der Bundesrepublik noch zu kleinteilig in den Orten und Städten ab. Der Rationalisierungseffekt von Gebietsreformen – auch ein Produkt der 60er Jahre – hatte aber leider den Pferdefuß, dass vor Ort zunehmend weniger entschieden wurde. Trotzdem sorgte das Klinkenputzen während der Wahlkämpfe nach amerikanischem Muster oder Versammlungen in Städten und Gemeinden für ein neues Gefühl der Teilhabe. Aus heutiger Sicht fast paradiesische Zustände.
Die in den 50er Jahren versäumte Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit wurde endlich gegen einige Widerstände angegangen. Ein Meilenstein war der Auschwitz-Prozess in Frankfurt. Defizite im politischen System wurden mit neuen Formen politischer Aktivierung beantwortet. Das Wort Bürgerinitiative war ein erstes Zeichen, dass nicht alleine den Parlamenten vertraut wurde.
Studentenbewegung
Protest gegen den Vietnam-Krieg, den Schah, aber auch gegen eine erstarrte und autoritätshörige Universität befeuerte die Studentenbewegung. Privates (lange Haare, ungewöhnliche Kleidung, eine andere Sexualmoral…) wurde zu Signets eines anderen Lebensstils. Dieser abweichende Lebensstil sollte zugleich auch ein Gegenpol zur Welt der Alten darstellen. Das intellektuelle Niveau der damals geführten Debatten war beachtlich, auch wenn der Polit-Jargon von vielen Linken neue Trennungen bewirkte. Aus vielgestaltigem und ideenreichen Protest wurde – je länger je mehr – eine ideologische Engführung im Zeichen neuer Avantguarde-Bewegungen wie K-Gruppen und DKP.
Zuhause hatte die Studentenbewegung immerhin bewirkt, dass unser Vater sich einen Marcuse ins Regal stellte. Der herrschaftsfreie Diskurs war damit leider noch nicht eingeführt. Aber: längere Haare bei uns Jungs waren nun möglich.
Sound der neuen Zeit
Den passenden Soundtrack zum Jahrzehnt lieferte Pop, Rock und Folk. Während die Stones deprimäßig behaupteten What a drag it is getting old, hielten die Beatles lebensbejahend dagegen When I’m sixty-four. Jimi Hendrix, Eric Clapton, Joan Baez und Bob Dylan fanden ihre Gemeinden. Selbst wenn viel berechtigter Protest in der Musik einzog, gab es doch genug Lebensfreude, z.B. bei den ersten unschuldig-aufregenden Klassenfêten.
Wendepunkt 1968
Was in Berlin, Frankfurt oder auch nur in Bonn oder Köln passierte, war für einen 12jährigen so weit weg wie die Mondlandung. Trotzdem war der Kulturbruch, der mit diesem Jahr verbunden war, auch in der rheinischen Provinz spürbar: Es wurde von Haschisch im Moustache gemunktelt, die Mädchen zogen sich körperbetonter an, in der Schule diskutierten auch wir Grünschnäbel über die Notstandsgesetze und bekamen zu unserer Überraschung Lob von unserem Lateinlehrer Lehnhoff.
Das Ende des Jahrzehnts
An das Epochenjahr 1968 – weder Auftakt der erhofften Revolution noch Ende der alten Bundesrepublik – schloss sich das Jahr 1969 an. Es brachte Mondlandung und Woodstock, den Film Easy Rider und die erste Koalitionsregierung ohne CDU. Die Bundesrepublik hatte gezeigt, dass sich die Erneuerungsimpulse von ‘68 auch im Regierungsprogramm Willy Brandts niederschlagen konnten. Die alte Zeit schien erst einmal unwiederbringlich vorbei. Der Individualismus wurde im Zeichen von Chancengleichheit und Bildungsreform enorm verstärkt. Gleichzeitig franste der Fundus an verbindenden Traditionen mehr und mehr aus. Ein Beispiel aus dem Advent: Gemeinsames Singen am Adventskranz war zwar auch mit einem gewissen Zwang verbunden, trotzdem schaffte das Singen, Dunkelheit und Tannennadelduft eine Verbindung, die ich mit manchmal zurückwünsche. So waren sie für mich, diese dramatischen 60er Jahre…