Guntram Vespers Frohburg kommt schon rein äußerlich als Schwergewicht daher: Die über 1000 Seiten umfassende Veröffentlichung beim Lesen zu handhaben kräftigt in jedem Fall die Handmuskulatur. Der Buchumschlag verheißt einen Roman, einschränkend und lakonisch heißt es aber mit Fontane im Vorspann Für etwaige Zweifler also sei es ein Roman!
Gleich der Start steckt mit einem Nomen-Staccato räumlich und zeitlich den Rahmen ab, in dem die Erzählung spielt. Sie greift über das Leben des Ich-Erzählers von 1941 an auf die Generationen der Eltern und Großeltern aus und startet etwa 1906. Die letzten Ereignisse im Buch stammen dann aus dem Jahr 2012. Dreh- und Angelpunkt ist das titelgebende Frohburg, eine sächsische Kleinstadt südlich von Leipzig im Dreiländereck von Thüringen, Sachsen-Anhalt und Sachsen. Weniger eine äußere, linear erzählte Handlung als vielmehr assoziativ verknüpfte Begebenheiten, häufig ausgelöst durch signifikante Straßen, Hauswinkel oder andere topographische Größen, ergeben trotzdem in der Summe die Familiengeschichte Vesper. Hier ist Literatur geworden, was man Familiennarrativ nennen kann, wenn in vertrauter Runde Geschichten und Dönekens zusammengetragen werden. Da dies definitiv ausstirbt im Zeitalter der allgemeinen Digitalverdaddelung, werden zukünftige Leserinnen und Leser Frohburg auch als ein Stück vergangene Sozialgeschichte lesen können.
Ein Nebenstrang des Romans ist die Buchgeschichte des Ich-Erzählers: Sie enthält, was er gerade gelesen hat oder welche Buchausgaben in der Familie erworben und – wie besonders beim verstorbenen Bruder – gehortet wurden. Zu dieser Ebene von Frohburg gehören die reale Begegnung mit einem Schriftstellerkollegen wie Kempowski, aber auch die nacherzählte oder ausgemalte Begegnung mit so unterschiedlichen Autoren wie Hans Mayer, Ernst Bloch, Uwe Johnson oder – Karl May.
Formal gerinnt dieser Erzählstrom zu einer Bleiwüste. Anfangs kürzere, zum Ende hin immer längere Passagen oft über viele Seiten hinweg erlauben es Vesper offenbar nicht, den Erzählfaden struktierend in Absätzen zu unterbrechen. Vielmehr wird der Text fortlaufend Zeile für Zeile präsentiert. Wer so etwas hasst, wird Frohburg bald beiseite legen. Ich empfand es meist als anregend zu überlegen, wer spricht gerade und wessen Perspektive wird eingenommen, zumal kursiv gesetzte Aussprüche – häufig im Dialekt wie der allde Lusdmolch – diese Strenge konterkarieren.
Trotzdem hat Vesper offenbar selbst die Spannung zwischen Inhalt und Form empfunden, wenn er selbstreflexiv vom „ausufernde(n) Frohburgroman (975)” spricht. Sollte jemals die Idee aufkommen, Frohburg verfilmen zu wollen, wird jedenfalls der Drehbuchautor nicht zu beneiden sein: Aus Hunderten von Erzählpartikeln, die sich gelegentlich auch wiederholen, müssen handhabbare Abschnitte erzeugt werden, die für eine Kinopublikum beim ersten Betrachten eine fassbare Geschichte ergeben.
In Vespers Vorgänger-Roman Nördlich der Liebe und südlich des Hasses hatte ein poetologisches Credo gelautet:
Die Widersprüche der Wirklichkeit, ihre Vielfalt. Das Zögern vor jedem Versuch einer Beschreibung. Auf der anderen Seite die einfachen Wahrheiten. Einfach und brutal wie diese Viertel, aus denen man nur in umkehrter Richtung fliehen kann, ins neue größere Auto und in die Wohnung, deren Tür man hinter sich verriegelt […] (18)
Auch wenn der Ansatz, Alltagsgeschichte so zu filtern, dass aus den disparaten Zufällen und alltäglichen Begebenheiten etwas Aufschreibenswertes gefiltert werden kann, ähnlich war, ist Vesper dort der Balanceakt zwischen Provinzgeschichte und Empathie und Interesse erzeugendem schriftlichen Substrat ungleich besser gelungen. Kaum ein Satz oder sogar ein Wort scheint verzichtbar.
Das ist in Frohburg definitiv anders: Manchmal mäandert der Erzählfaden doch so überraschend und willkürlich, dass es schwer fällt, bei den überaus vielen Personen und Orten das Leseinteresse aufrecht zu erhalten. Ob daran ein Personenverzeichnis* oder ein genialer Lektor etwas hätte ändern können, ist eher zweifelhaft. Vesper hat sich beim letzten Versuch (Jahrgang 1941), sich seiner eigenen Geschichte zu vergewissern, angesichts des Anspruchs übernommen, alles Wichtige bis ins Detail zu Papier zu bringen. Eine für Leserin und Leser nachvollziehbare Struktur und Form, die dieser exemplarischen Geschichte noch mehr Zugkraft gegeben hätte, habe ich oft vermisst. Auch der Tod des Großvaters am Ende von Frohburg reicht nicht aus, um eine Finalspannung zu erzeugen. Trotzdem erfährt man vermutlich in kaum einem anderen aktuellen Roman soviel von einer Familiengeschichte aus Kaiserreich, Weimarer Republik, Nazi-Zeit, DDR und Westdeutschland wie eben in Frohburg. Von daher: Zum Lesen empfohlen.
*eine vom Autor gezeichnete Ortskarte und eine Zimmerskizze vom Geburtshaus enthält der Anhang