Wolf Biermann hat Öffentliches und Privates mal so aufeinander bezogen: Da, wo Familienalbum und Geschichtsbuch sich überschneiden, wird Geschichte spannend. Wende ich das auf mich an, fällt mir zu meinen evangelischen Anteilen ein, dass meine Großmutter mütterlicherseits aus Ostpreußen kommend ihrem katholischen Mann zuliebe konvertiert ist. Meine eigene Mutter, an erster Stelle Vermittlerin meiner christlichen Überzeugungen, hat sie als besonders fromme Frau beschrieben. Sie hatte dann auch über Jahre überhaupt kein Problem, in einem evangelischen Kirchenchor zu singen, dem sie (und der ihr) bis weit ins 7. Lebensjahrzehnt die Treue gehalten hat.
Den intensivsten Kontakt zur „falschen Religion? (wie mein Freund Winfried manchmal scherzhaft sagt) hatte ich im Studium, als ich in zwei Wohngemeinschaften mit evangelischen Theologinnen und Theologen zusammenwohnte und als ich später in einer Bibliodrama-Gruppe in Nordhelle (Siegerland, ein evangelisches Tagungshaus) den schwer zu bewältigenden Tod eines nahen Verwandten zu verarbeiten suchte.
Dann gibt es noch eine Reihe von evangelischen Theologen, die mir was zu sagen hatten wie Dietrich Bonhoeffer, Kurt Marti („Leichenreden? ist eines meiner Lieblingsbücher) oder Helmut Gollwitzer. Dorothee Sölle, die ich in der Jugendakademie kennenlernte, fand ich dagegen mit ihrer moralisierenden Selbstgewissheit und einem streng nach Gut und Böse trennenden Weltbild fast unerträglich.
Was hat nun Luther, dessen Thesen heute gedacht wird, für jemanden wie mich, der sich als katholischer Christ sieht, gebracht? Beginnen wir mit etwas, was heute in beiden großen Kirchen ausgemachter Konsens ist: sola gratia* wird auch im katholischen Bereich heute als wichtige Korrektur dafür verstanden, dass Gott in keiner Weise – auch nicht durch das damalige Skandalon Ablässe – verfügbar ist. Die göttliche Gnade ist allen zugesprochen und kann nicht in Rabattmarkenlogik „gekauft? werden.
Auch der Grundsatz sola scriptura hat einen wichtigen Stellenwert in der katholischen Kirche gewonnen: Verkündigung erfolgt in der Landessprache, alle haben Zugang zu Bibelübersetzungen und sind mit dem allgemeinen Priestertum aller Gläubigen gefragt, sich selbst mit den Inhalten der Frohen Botschaft auseinander zu setzen. Zugegeben, an der Austarierung von synodalen Elementen und einer von der Kirche – vertreten durch ihre Funktionsträger – beanspruchten Lehrfunktion muss die katholische Kirche noch arbeiten.
Umgekehrt weiß ich es zu schätzen, dass katholische Kirche für mich immer noch mehr den Stachel, der Religion auch sein sollte, vertritt und nicht zur bloßen Wohlfühl-Religion verkommen ist (die dann tatsächlich niemand mehr braucht). Im Bild gesprochen: Wenn es im Evangelium heißt „ihr seid das Salz der Erde?, höre ich manche evangelischen Pfarrerinnen und Pfarrer erschreckt aufschreien: „Igitt, Salz, Herzinfarkt auslösend, Diätmagarine tut es doch auch.?
Alles in allem hat Luther notwendige Reformen im Christentum angestoßen. Die Entzweiungen, die immerhin zum Dreißigjährigen Krieg geführt haben, waren von ihm vermutlich nicht gewollt. Ein vorsichtiges, die unterschiedlichen Glaubensformen und -traditionen achtendes Aufeinanderzubewegen der beiden (nicht mehr so) großen Kirchen ist sehr zu wünschen (und würde auch den familiären Anteilen und Vertretern des Protestantismus gefallen).
* sola gratia – Latein, allein durch die Gnade
** sola scriptura – Latein, allein durch die Schrift, hier ist die Bibel gemeint